Der „Pulsschlag aus Stahl“ pocht im Ruhrgebiet seit den Tagen von Herbert Grönemeyers Hymne „Bochum“ schwächer und schwächer. Wie geht es weiter mit dem Strukturwandel? Das Kulturhauptstadt-Jahr RUHR.2010 hat versucht, weitere Lebensadern offenzulegen. Dabei ist der Um- und Aufbruch längst da. So lautet jedenfalls die Botschaft des Projekts „New Pott. Neue Heimat im Revier“, das der Düsseldorfer Künstler Mischa Kuball mit dem Kulturwissenschaftler Harald Welzer und dem Fotografen Egbert Trogemann in enzyklopädischer Fleißarbeit realisierte.
“NEW POTT – Neue Heimat im Revier” fand nun seine dauerhafte Verortung in der Sammlung des Lehmbruck Museums in Duisburg und wird noch bis 11. Mai in einer Ausstellung präsentiert. Diese „partizipatorische“ Arbeit, die Kuball, Trogemann und Welzer für die Kulturhauptstadt RUHR.2010 realisierten, stellt sich der multikulturellen Wirklichkeit der Metropole Ruhr. Wie lässt sich die von Multikulturalität geprägte Region künstlerisch darstellen? Kuball, Professor für Medienkunst an der Kunsthochschule für Medien Köln, entschied sich für ein Projekt, das die im Ruhrgebiet lebenden Menschen einbezog. Menschen und ihre Familien aus aller Welt, die heute in der Region, zwischen Duisburg und Dortmund wohnen, wurden zu aktiven Teilnehmern.
Mischa Kuball, Hektor Troyali, Türkei
Ausstellungsfoto Hartmut S. Bühler
Das Licht kam in die Welt …
Mischa Kuball schenkte ihnen eine Lampe, die ihren Privatraum erhellte und in eine Bühne verwandelte, eine Plattform, auf der sich der Künstler und die Menschen aus 100 unterschiedlichen Herkunftsländern begegneten. Sie erzählten ihm ihre Migrations- und Lebensgeschichte, von ihren Erfahrungen zwischen den Kulturen. Dabei dienten die hell leuchtenden Stehleuchten als Lichtzeichen der Begegnung und des Austausches. Die Glaskugel trägt eine Inschrift, ein Zitat aus dem Johannes-Evangelium: „Das Licht kam in die Welt, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht.“
“Licht steht auch für Aufklärung”, sagt Kuball. Der Lichtkegel habe aus den privaten Wohnräumen ein Forum gemacht, auf der Einzelschicksale in den Fokus rücken konnten. Was Kuball erfahren hat, hafte ihm bis heute an: “Man kann nicht hundert Geschichten hören und sich einfach wegdrehen”, sagt er. Er will, dass auch der Betrachter in diesen oft so fremden Geschichten Anknüpfungspunkte findet und versteht, dass hinter Einwanderungsstatistiken Einzelschicksale stehen. “Sobald sie die Gesichter sehen, bekommen Zahlen und Schicksale überhaupt eine Bedeutung.”
Mischa Kuball, Familie Machert, Rumänien.
Ausstellungsfoto: Hartmut S. Bühler
Anders als in den Statistiken von Thilo Sarrazin
Kuball hat im Rahmen des Kulturjahrs 100 Migranten und ihre Familien in der Metropolregion besucht. Sie kamen als Studenten, Facharbeiter, Spezialisten, Flüchtlinge, aus Liebe oder aus Not, mit Familie und großen Hoffnungen, und sie haben dem Besucher ihre Geschichte erzählt. Die kurdische Familie Saeed wurde 1980 aus dem Irak vertrieben, über den Iran wanderte sie ins Ruhrgebiet ein – ihre Kinder sollten es einmal besser haben. Die Israelin Idit Shlanger brachte ihr Germanistik-Studium und ein Job-Angebot nach Deutschland. Jetzt weiß sie nicht, ob und wann es sie wieder zurückzieht. Jean Louis Gatera aus Ruanda war vier Jahre alt, als Soldaten die Familie überfielen. Im Krieg verlor er seinen Vater, entfremdete sich von seiner Mutter, die zunächst wie Gatera und seine Geschwister in Deutschland Sicherheit suchte. Bis heute verfolgen ihn die Erlebnisse.
Diese Einwanderer sind anders als die Migranten in den Statistiken à la Thilo Sarrazin. In der Erfindung neuer Identitäten sind sie Profis – und sie ersinnen gleich einen neuen Ruhrpott mit. Im New Pott überblenden sich Klischees bis zur Unkenntlichkeit. Da schimpfen Türken gegen die Macht des Islam, preisen Lateinamerikaner die deutsche Lockerheit, beschweren sich Inder über Deutsche, die so wenig vom Ruhrgebiet wissen.
Ausstellungsfoto: Hartmut S. Bühler
Foto-Bewegtbild-Ton-Dokumentation des Lebens im frühen 21. Jahrhundert
Egbert Trogemann, Düsseldorf, begleitete und dokumentierte die Begegnungen filmisch und fotografisch, Kuball schaffte 100 Tableaus mit Aufnahmen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und deren Interieurs, die in der Tradition der vergleichenden Fotografie wie Studien zu der sich wandelnden multikulturellen Gesellschaft gelesen werden können. Multimediale Dokumentationen der Begegnungen ermöglichen den Nachvollzug der Gespräche zwischen dem Künstler und den Menschen aus 100 verschiedenen Ländern (Textquellen: Lehmbruck Museum und Monopol-Magazin).
Der Besucher bekommt neben einigen ausgewählten Videoportraits 200 Schwarzweißfotos zu sehen: jeweils 100 Fotos mit Menschen in ihrem Wohnzimmer nebst Kuball-Lampe, darunter dasselbe Motiv menschen-leer. Die enge Hängung ist anstrengend zu schauen, sie funktioniert umständlich per Handzettel und ebensolchem Suchen der Abgelichteten per Nummer. (Familien-)Namen wie Zahlen sind sehr klein geschrieben, wodurch die lobenswerte Schau ermüdend wird.
Weitere Informationen zu den Protagonisten fehlen – schade. Wer mehr über die Kuball-Erwählten wissen will, muss den Katalog zu € 49,90 kaufen: mehr als 700 Seiten Wissenswertes. Doch wer kauft den? Zusätzliche Informationen an den Fotos sind wünschenswert.
Ausstellungsfoto Hartmut S. Bühler
Kuball sieht sich in der Tradition von Fotograf August Sander (1876 – 1964), der in seinem berühmten Bildatlas „Menschen des 20. Jahrhunderts“ in charakteristischer Umgebung porträtierte.
Auch Kuball kartographiert. Seine Foto-Bewegtbild-Ton-Dokumentation ist ein Querschnitt vielfältiger Leben im frühen 21. Jahrhundert. Die Migrationserfahrungen interessieren dabei nicht nur im Ruhrgebiet, berichtet er. Es gebe bereits Anfragen aus Adelaide, New York, São Paulo – denn Leben im Einwanderungsland ist ein globales Phänomen.
Austellungsfoto: Hartmut S. Bühler
Migration gleich Normalität?
Die Ausstellung wurde ins Erd- und Untergeschoss des Museums platziert. Das bedeutet denn wohl auch, dass Integration mittlerweile angekommen und akzeptiert ist in Nordrhein-Westfalen, Migration gleich Normalität an Rhein und Ruhr.
Jedoch stellte ein betagter Besucher während meines Besuchs fest, dass die Abgebildeten wohl zur anpassungsbereiten intellektuellen und leistungsstarken Mittelschicht ihrer jeweiligen Herkunftsländer zählen. Das sei zwar sehr positiv, aber in Wirklichkeit gebe es auch eine große Zahl Migranten, die alles andere „als Elite“ sei und das Zusammenleben im Pott erheblich beeinträchtige.
Mischa Kuball: NEW POTT – Neue Heimat im Revier
Lehmbruck Museum
Friedrich-Wilhelm-Straße 40
47051 Duisburg
Weiterführende Links:
http://www.mischakuball.com/
http://de.wikipedia.org/wiki/Mischa_Kuball
http://www.lehmbruckmuseum.de/?p=4582
http://egberttrogemann.com/
http://kusa-rub-moderne.de/m252
http://de.wikipedia.org/wiki/Harald_Welzer
NEW POTT-Videos sind zu sehen auf
labkultur.tv
Text und Ausstellungsfotos: Hartmut S. Bühler