Dieter Zinn zitiert in seinem Buch âFotokaraokeâ Autoren, die sich zur Fotografie geĂ€uĂert haben, und macht sich seine eigenen Gedanken. Wie beim Karaoke entsteht so, angeregt durch das Original, ein eigenes Werk â ein âKaraoke der Neuerfindungâ. ruhr.speak veröffentlicht AuszĂŒge in lockerer, aber alphabetischer, Reihenfolge.
Aura, Spur und Erscheinung
Aura wird hĂ€ufig verstanden als eine Erscheinung, die etwas verströmt und dadurch den Menschen oder das Objekt stark ĂŒberhöht. Sehr eindeutig erscheint der Begriff der Aura im ĂŒblichen Sprachgebrauch nicht, der in den 1920er Jahren von Walter Benjamin in seinem âPassagenwerkâ (Der Flaneur) formuliert wurde.
Benjamin geht es in seinen Ăberlegungen um die Ortlosigkeit und die Verortung der Bilder: â[…] was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkĂŒmmert, das ist seine Aura. Die Aura ist [die] Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. Die Spur ist [die] Erscheinung einer NĂ€he, so fern das sein mag, was sie hinterlieĂ.â Benjamin bezieht sich auf das “Hier und Jetzt” des Kunstwerkes und seiner Existenz an dem ihm bestimmten Ort. Das ist in einem doppelten Sinn zu verstehen, denn Bilder zeigen nicht nur Orte, die gesehen wurden, sondern sie brauchen auch Orte, an denen sie zu sehen sind. Hier stellt sich die Frage: Wie verĂ€ndern Fotografien die Orte, die sie zeigen, und wie verĂ€ndern sich Fotografien durch die Orte, an denen Sie gezeigt werden?
Bei kritischer Betrachtung des Begriffs der Aura bei Benjamin unterscheiden sich zwei Ebenen. Die eine beschreibt die Reproduzierung des Kunstwerkes, die andere lĂ€sst Kunstwerke entstehen durch Techniken der Reproduzierbarkeit, wie die Fotografie oder der Film. FĂŒr Benjamin geht es um den Ort, also die vom Werk unabhĂ€ngige, weil topologische Unterscheidung, die das Kunstwerk als Original fixiert. Dieser Anspruch ist bei Fotografie und Film nicht vorauszusetzen, denn beide zeigen die Vergangenheit eines Augenblicks in der Reproduktion des Sujets. Benjamins These ist auch als Provokation an âhehre KunstansprĂŒcheâ zu verstehen mit dem Verweis auf neue Techniken, aus denen sich eine neue Art Originaltreue entwickeln wird. Jetzt, im digitalen Zeitalter, erweist sich seine Provokation als visionĂ€r. Im Netz und den KanĂ€len der Kulturindustrie hat sich der Begriff des Originals gewandelt. Auch eine Fotokopie kann zum Original werden, wenn sie Teil eines Kontextes ist. In digitalen, also mathematisch errechneten Bildern, scheint der Verweis auf ein Original absurd.
Diese Ăberlegung gilt fĂŒr die meisten Bilder und Objekte, die als Kunst in Museen und Sammlungen âzwangsverortetâ wurden. So wurde Rafaels Bild der âSixtinischen Madonnaâ dem originĂ€ren Ort der andĂ€chtigen Anbetung in einer Kirche entnommen und im âZwingerâ in Dresden ausgestellt. Dort wird es von andĂ€chtig schauenden Menschen als Kunstwerk betrachtet, im Kontext kulturell gestalteter Freizeit, ohne jede metaphysische Verortung. Der Begriff des Originals, den Benjamin in seinen Gedanken zur Verortung und Reproduzierbarkeit thematisierte, scheint ohnehin heute nicht mehr haltbar. Schon deswegen, weil die meisten Bildwerke der Kunstgeschichte so hĂ€ufig restauriert und ĂŒbermalt wurden, dass von einem Original nicht wirklich gesprochen werden kann. Auch zeitgenössische Darstellungen bemĂŒhen sich auf eine neue Art um âVerortungâ. Original und âAuraâ verschwinden auf KunstmĂ€rkten und Kunstbörsen hinter Events, Rankings und Auktionen.
Was bleibt, ist der Aspekt der NĂ€he zum Werk, das unabhĂ€ngig von Ort und Zeit bis heute zu uns im Sinne Benjamins wirkt: âDie Spur ist die Erscheinung einer NĂ€he, so fern das sein mag, was sie hinterlieĂ.â Benjamin erkannte, dass NĂ€he und Ferne in der Gesellschaft eine rasante VerĂ€nderung erfahren werden durch Entwicklung und massenhafte Verbreitung der Reproduktions- und Kommunikationsmittel. Das VisionĂ€re dieses Denkens zeigt sich heute im digitalen Netz, in dem jede Differenz von Aura und Spur verwischt wird. Wer sich im World Wide Web aufhĂ€lt, ist wĂ€hrend der digitalen Kommunikation dort verortet, wo er im Netz ist. Traditionelle Verortungen mit physischen Standorten werden damit obsolet. Die Aura technischer Bilder entwickelt sich heute mehr aus dem Geist der vergehenden Zeit, deren VergĂ€nglichkeit sich selbst reproduziert und dabei eine Zeitlosigkeit offenbart, in der die Zeit selbst zu erkennen ist.
Dieter Zinns Buch “Fotokaraoke” erscheint im Oktober 2013 im Mitteldeutschen Verlag, Halle.