Streifzug #6 vom 30. August 2019
Mit der zeitweiligen SchlieĂung des Parlaments macht der neue britische Premierminister Boris Johnson seinem Ruf als No-Deal-Brexit-Hardliner alle Ehre. Auch die Liste der bisherigen Regierungschef ist nicht arm an polarisierenden Gestalten. Bis heute braucht nur der Name Thatcher zu fallen, um zuverlĂ€ssig Alarm auszulösen:
Kein Wunder: WĂ€hrend es bei der Deindustrialisierung des Kontinents letztlich keine Frage war, dass gewisse gesellschaftliche Standards gewahrt bleiben sollten, hatte Margaret Thatcher andere Ideen: “the biggest shift in politics in living memory“, RĂŒckdrĂ€ngung des Staates, Privatisierungen und Ausweitung des Marktprinzips ohne RĂŒcksicht auf gesellschaftliche Folgen, kurz: das ganz groĂe Rad drehen. Dabei hatte es mit dem Begriff Neoliberalismus eigentlich so gut angefangen. Mehr noch: die sich “alternativlos” gebende “marktkonforme Demokratie” wurde zum Fahrwasser praktisch aller westlichen Regierungen seither. So sehen Sieger aus.
“There is no such thing as society”
Voraus ging ein jahrelanger nicht nur politischer Angriffskrieg gegen die britischen Gewerkschaften und gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer, fĂŒr Thatcher “the enemy within”. Detailliert dargestellt ist der Schlachtplan im seinerzeit geheimen Ridley Report von 1977, heute (ausgerechnet) auf margaretthatcher.org abrufbar. Maximales Understatement im Hinweis, das Papier habe “considerable controversy” hervorgerufen. 1984 gelang in Orgreave die Arbeitnehmerseite zu spalten, der lange Winter erledigte den Rest. 170.000 Bergarbeiter in jahrelangem Streik, maximale vorausgeplante Polizeigewalt, 11.000 Festnahmen, 20.000 zum Teil schwer Verletzte, fĂŒnf Tote, hunderttausende Familien ohne soziale Sicherheit. Die damaligen tektonischen Verschiebungen haben bis heute GĂŒltigkeit. Von ihrer Marginalisierung haben sich die Gewerkschaften nicht mehr erholt. AuĂer Randnotizen wie der Anerkennung im Jahr 2014, Thatcher habe die Ăffentlichkeit “misled”, gab es nicht mehr viel zu gewinnen. AusgewĂ€hlte Fotoserien dazu:

Miners Strike, Brodsworth near Doncaster, 12.10.1984, © John Sturrock
Bergarbeiterstreik 1984/85: No Redemption von Keith Pattinson, auch im Roman GB 84 von David Peace // John Harris (PDF) und Artikel dazu // Martin Jenkinson: 1984-85 Miners’ Strike und Women Against Pit Closures // Pixelprojekt-Fotograf Michael Kerstgen: Coal not Dole // Dichte Zusammenstellung von Pressefotos // University of Glasgow: Containing, isolating, and defeating the miners (PDF) // University Of Winchester: The Ridley Plan to decivilise the working class (PDF) // New Statesman: How the minersâ strike of 1984-85 changed Britain for ever
Thatcher-Britain, die Troika: Chris Killip, Graham Smith und Martin Parr. Parrs Vorreiter Tony Ray-Jones sei an dieser Stelle auch erwÀhnt.
Klassiker: John Davies – The British Landscape und Neo-Klassiker: Simon Roberts – Merrie Albion â Landscape Studies Of A Small Island // Wiederentdeckt: Tish Murtha // Aus der aktuellen FotografenÂgeneration: Theo Simpson – The Land of the Day Before.
Neue Publikationen von Chris Killip: Eine Serie von groĂformatigen Heften bei Ponybox, darunter Skinningrove und The Last Ships mit einer erweiterten Fassung der herausragenden Serie zum Ende des Schiffbaus an der Tyne, die auch im Folkwang-Museum zu sehen war, und Huddersfield 1974, ein kleines Heft bei CafĂ© Royal Books.
Ebenfalls bei CafĂ© Royal Books: John Myers – The End of Manufacturing. In deutlich umfangreicherer Form auch frisch als End of Industry bei RRB Photobooks erschienen – spannend.
Und: Peter Fryer – Coke to Coke. WĂ€hrend die meisten Arbeiten zu WerksschlieĂungen und DeindustriÂalisierungsÂprozessen aus unterschiedlichen GrĂŒnden auf Phasen des Danachs beschrĂ€nkt sind – mit Ausnahmen wie etwas Killips Last Ships oder Pirelli Work – zeigt Fryer sowohl das Davor als das Danach, mit angemessen hartem Schnitt.
Chateau Despair
Chateau Despair, Fotobuch von Lisa Barnard zum Tories-Hauptquartier der Thatcher-Zeit, mit vielen begleitenden Texten. 32 Smith Square heiĂt jetzt Europe House und beherbergt das Londoner BĂŒro der EuropĂ€ischen Kommission. Thematisch ergĂ€nzende Texte von Inke Arns und Jim Campbell in INDUSTRIAL on Tour, HMKV 2013.
Aberfan
In Wales fand die eigentliche ZĂ€sur der MontanĂ€ra bereits 1966 statt: beim Haldenrutsch von Aberfan kamen 116 Kinder in einer Grundschule und 28 Erwachsene ums Leben. Zwischen 1984 und 1990 lieĂ die Ffotogalerie die Region von Fotografen wie David Bailey, John Davies, Ron McCormick, Francesca Odell und Roger Tiley fĂŒr The Valleys Archive aufnehmen. Es lohnt sich, das zugehörige PDF herunterzuladen. Die abgerutschte Halde gehörte zur 1989 geschlossenen Merthyr Vale Colliery. Deren GelĂ€nde wird seit 2009 neu erschlossen – u.a. mit einer neuen Grundschule. Auch 400 weitere Hektar Industriebrache bei Aberfan werden derzeit saniert, mit einem bemerkenswerten Finanzierungsmodell: Ein Privatunternehmen renaturiert das GelĂ€nde fĂŒr die öffentliche Hand, die dafĂŒr nichts bezahlt. Im Gegenzug baut es vorher auf eigene Rechnung 11 Millionen Tonnen darunter liegende Esskohlen im Tagebau ab. Die Grube wurde 2007 eröffnet und soll 20 bis 30 Jahre lang laufen. Auch in Wales dauert die Abwicklung des Montanzeitalters also Jahrzehnte, mit vielen Möglichkeiten fĂŒr fotografische Langzeitprojekte.
Und sonst?
Text: Haiko Hebig
Titelbild: Lisa Barnard