Dieter Zinn zitiert in seinem Buch âFotokaraokeâ Autoren, die sich zur Fotografie geĂ€uĂert haben, und macht sich seine eigenen Gedanken. Wie beim Karaoke entsteht so, angeregt durch das Original, ein eigenes Werk â ein âKaraoke der Neuerfindungâ. ruhr.speak veröffentlicht AuszĂŒge in lockerer, aber alphabetischer, Reihenfolge.
âDie Welt hat sich ein Fotografiergesicht zugelegtâ, schrieb Siegfried Krakauer in den 1920er Jahren, ânoch nie habe eine Zeit so gut ĂŒber sich Bescheid gewusst, wenn Bescheid wissen heiĂt: Ein Bild von den Dingen haben.â Die stetige PrĂ€senz von Fotografien verĂ€ndert kontinuierlich unseren Blick auf die Welt. Dabei wird meist ĂŒbersehen, dass diese PrĂ€senz auch den Blick auf uns selbst verĂ€ndert. Je vertrauter dem Bewusstsein die sichtbaren Bilder werden, desto selbstverstĂ€ndlicher brennen sich die Schatten dieser Bilder in Köpfe und Sinne ein. Wir schauen selbst wie eine Kamera, â weil wir Bilder sehen, die wie Bilder aussehen â und von denen wir annehmen, dass Bilder so aussehen.
Bildbewusstsein erzeugt das GefĂŒhl, ĂŒber sich selbst und ĂŒber die Welt Bescheid zu wissen. Unser Selbstbild entspricht der Vorstellung dessen, was wir gerne sein wollen. Deswegen können wir nur das sehen und erkennen, was wir wissen, mit der Konsequenz, dass wir Wirklichkeiten nur so akzeptieren können, wie wir sie deuten. Die allgegenwĂ€rtige PrĂ€senz bildgebender Medien konzipiert kalkulierte Bildwelten und Bildsprachen, um sie fĂŒr eigene Themen neu zu generieren. Dabei ist es weniger interessant, was bewusst oder unbewusst ist, sondern welche Prozesse in unserem Gehirn uns unterstĂŒtzen, darauf individuell zu reagieren.
Menschen fĂŒhlen sich animiert und aktiviert, in ein Bild hineinzugehen, um selbst zum Bild zu werden. Kameraleute und Fotografen kennen diese Situationen, wenn sich ihre âSujetsâ vor der Kamera in der Art inszenieren, dass sie wie im Karaoke, das Bild ihrer Bilderwartung nachspielen. Auf einer Anti-Kriegs-Demo hatten junge Frauen das Wort âPeaceâ in groĂen Buchstaben auf ihre DekolletĂ©s geschrieben. Sie standen sofort im Focus der Presse-Kameras und am nĂ€chsten Tag war ein Foto davon in der Boulevardpresse zu sehen, mit der Ăberschrift: âDie sanften Friedensengel von MĂŒnchen.â Die Pose im Foto wird zum Markenzeichen bildbewusster Menschen und auf dem Kameradisplay lĂ€sst sich sofort ĂŒberprĂŒfen, ob das Bild mit dem Selbstbild ĂŒbereinstimmt.
Menschen gehen zu Events, machen dort Fotos, stellen sie ins Netz und sehen sich selbst als Teil des weltweiten virtuellen Bilderrauschens. Das âPublic Viewingâ verschweiĂt zigtausende von Menschen vor dem Bild auf einem Grossbildschirm, auf dem auch Bilder von diesem âPublic Viewingâ gezeigt werden. Jetzt können sich die Zuschauer selbst dabei zusehen, wie sie auf die Grossbildscreen schauen. In diesem Moment werden sie zum Bild in den Bildern des Ereignisses, das sie auf dem Screen gemeinsam anschauen wollen. Wer sich auf diesen Bildern sieht, in denen das Bild zum Selbstbild geworden ist, geht nicht davon aus, dass Bilder TrĂ€ger von Sinn und Bedeutung sind.
Bildbewusstsein findet hinter den OberflĂ€chen der Bilder statt. Nicht die Abbildung an sich, also das auf dem Bild Dargestellte, sondern die eigenen Verbindungen – Erinnerung, Abgleich, Bewertung mit dem Abgebildeten – prĂ€gen jedes Bildbewusstsein. In fotografischen Bildern verhĂ€lt es sich deswegen so, dass sie keine Behauptung auf das âso war esâ aufstellen sollten, sondern sich nur auf die Bedeutung des Abgebildeten berufen können.
Bildbewusstsein verschwimmt zwischen unbewussten Urbildern, Konditionierungen, eigenen Erfahrungen und der âreinen Anschauungâ. In diesem Sinne denkt auch Immanuel Kant, (ohne Kenntnis fotografischer Bildwelten), dass Erkenntnisse, die sich auf Wahrnehmungen beziehen, nur âErscheinungenâ sind, nicht die â Dinge an sichâ. Fast 150 Jahre spĂ€ter malte RenĂ© Magritte sein berĂŒhmtes Bild mit einer Pfeife mit dem Titel, âCeci n’est pas une pipeâ. (Dies ist keine Pfeife). Hier stellt Magritte das reine Bildbewusstsein in den Vordergrund der Betrachtung: Wir sehen das Bild einer Pfeife und nicht die Pfeife selbst.
Im Bildbewusstsein der Selbstbilder geht es um PhĂ€nomene, in denen zuerst der Ă€sthetische Blick entscheidet, ob etwas gesehen und als Wirklichkeit akzeptiert wird. Friedrich Nietzsche hat den wahren Ă€sthetischen Menschen durch die FĂ€higkeit charakterisiert âmit seinen Bildern völlig zu verschmelzen.â Dabei geht es nicht um ein Bildbewusstsein das sich wie in einem Spiegel erkennt, sondern um etwas viel Schöneres: Sich selbst als Bild zu erkennen.
Dieter Zinns Buch “Fotokaraoke” erscheint im Oktober 2013 im Mitteldeutschen Verlag, Halle.