Der Anblick der gewaltigen KohlenwĂ€sche auf Zollverein Essen, sie beherbergt das Ruhr Museum, lĂ€sst erschaudern: ob der schieren Betonwucht muss der Betrachter erst mal durchatmen. Dann die lange Auffahrt mit der Rolltreppe und danach der tiefe Treppenabstieg unter nackten BunkerwĂ€nden, an denen Kohlenstaub klebt, zur Pforte des Ruhr Museums â alles in feuriges Neonlicht getaucht: welch aufregender Einstieg in die Bilderwelt Chargesheimers.
âDas Ruhrgebiet ist noch nicht entdeckt wordenâ, so lauten die ersten Worte von Heinrich Böll zum Bildband âIm Ruhrgebietâ, den er zusammen mit Fotograf Chargesheimer (ursprĂŒnglich Carl-Heinz Hargesheimer bzw. Karl Heinz Hargesheimer ) 1958 publizierte. Als der Schriftsteller und und der Lichtbildner (dieser nennt sich selbst seit 1948 Chargesheimer – âich habe keine Vornamenâ) 1957 durchs Ruhrgebiet reisten, hatte das industrielle Ruhrgebiet seinen Höhepunkt erreicht.
120 Millionen Tonnen â nie zuvor und nie danach wurde im Pott so viel Kohle gefördert wie in diesem Jahr. Das Ruhrgebiet Ende der 50er Jahre, ein industrieller Ballungsraum, der völlig von Kohle und Stahl geprĂ€gt war: Zerstörung der Landschaft, Gesichtslosigkeit der StĂ€dte, Dominanz der schweren MĂ€nnerarbeit.
Magischer PrĂ€sentationsort – die ehemalige KohlenwĂ€sche. Foto: Hartmut S. BĂŒhler
Wendepunkt 1957
Böll und Chargesheimer konnten nicht ahnen, dass 1957 zum Wendepunkt des Ruhrgebiets werden sollte, dass der Beginn der Kohlekrise und damit der Strukturwandel kurz bevor stand, dennoch klingt das neue Ruhrgebiet in ihrem Werk schon an. Es sind die Freizeit und die Unterhaltung, der moderne Konsum und der beginnende Autoverkehr, vor allem aber die Menschen in der alltĂ€glichen Umgebung, ihrer zur âHeimatâ gewordenen Industrieregion, die sich zwischen die Bilder des alten Ruhrgebiets schieben.
Der Band âIm Ruhrgebietâ – geplant ursprĂŒnglich mit der BĂŒchergilde Gutenberg, erschienen dann bei Kiepenheuer & Witsch und bei Gutenberg – ist seit Jahren vergriffen und noch nie sind ausschlieĂlich die Ruhrgebietsfotos Chargesheimers ausgestellt worden. Vor allem aber sind nie jene Bilder gezeigt worden, die 1957 in Vorbereitung fuÌr den Bildband gemacht, seinerzeit aber nicht fuÌr das Buch ausgewaÌhlt wurden. Insgesamt liegen uÌber 1.500 Negative im Rheinischen Bildarchiv, die in diesem Zusammenhang entstanden sind.
Die Ausstellung âChargesheimer. Die Entdeckung des Ruhrgebietsâ zeigt mehr als 150 dieser bisher unveroÌffentlichten und etwa 50 der im Bildband erschienenen Fotografien. Es handelt sich hierbei um Reprints und vereinzelt um Vintage-Prints. Die Ruhrgebietsfotografien sind noch nie in GĂ€nze, sondern nur in einer Auswahl in der Chargesheimer-Retrospektive im Museum Ludwig 2007/08 in Köln gezeigt worden.
Heinrich Böll: “Entdeckt ist das Ruhrgebiet noch nicht. Es bleibt Mythos oder Begriff und ist doch Heimat, so geliebt wie jede andere.”
Die mehr als 200 ausgewaÌhlten Fotografien sind sechs Themen zugeordnet, die sich im zentralen Ausstellungsraum verteilen: Es sind âRuhrgebietslandschaftâ, âStadtâ, âArbeitâ, âWohnenâ , âFreizeitâ und vor allem die âMenschenâ, die Chargesheimer am meisten interessierten. Diesen GroĂthemen ordnen sich in den Seitenkabinetten Unterthemen zu: âBergbauâ, âStahlâ- und âFrauenarbeitâ, âTaubenzuÌchterâ, âPferderennenâ, âPassantenâ, âKircheâ, âKneipeâ, âKonsumâ, âMarktâ und die âMilieusâ.
Ein Sturm der EntrĂŒstung
âIm Ruhrgebietâ erschien im Herbst 1958 als groĂformatiger Bildband, der eindeutig den Schwerpunkt auf die Fotos von Chargesheimer legte. Die radikale SubjektivitaÌt (in tiefem Schwarz gedruckt, ohne weiĂen Rand hart geschnitten, diverse Motive in sehr hartem Korn) und IntensitaÌt des Buches entfachten eine Kontroverse, die viel uÌber die IdentitaÌt und den Kampf um die Deutungshoheit uÌber das Bild der Region verraÌt. Chargesheimer: âDies Buch habe ich den Menschen gewidmet, die darin abgebildet sind und nicht den OberbĂŒrgermeistern, die dadurch ihre fleiĂige Verwaltungsarbeit geschmĂ€lert sehen.â âAuĂerhalb des Ruhrgebiets erfuhr das Buch hoÌchstes Lob, waÌhrend im Ruhrgebiet ein Sturm der EntruÌstung losbrach.
â… der bösartige Kölner hat alles mitfotografiert (aufgenommen wahrscheinlich mit einer Linhof Technika III, Gewicht mit Objektiv etwa zwei Kilogramm, ohne Stativ und so geschmeidig wie mit einer Kleinbildkamera): diese verhĂ€rmten Arbeitergesichter, die schwieligen HĂ€nde, den Qualm aus den Essen und Schornsteinen, die Hitze vor dem Feuer der Stahlkocher, den unsĂ€glichen Schmutz der Bergleute in der Waschkau, das kĂŒmmerliche SonntagsvergnĂŒgen… das FuĂballspiel im grĂ€Ălichen Hinterhof …â
Heinrich Böll: “Kein Wunder, dass zwischen Dortmund und Duisburg, wo WeiĂ nur ein Traum ist, die Brieftaube ihre besten Freunde hat.”
Das Ruhrgebiet als Thema fĂŒr fotografische Reportagen
Was Chargesheimer-Freund Georg Ramseger (BuchhĂ€ndler und Journalist) so polemisch beschreibt, bringt die Auseinandersetzung zwischen verĂ€rgerten Vertretern des öffentlichen Lebens auf der einen Seite, den Autoren und dem Verleger auf der anderen Seite treffend auf den Punkt. BĂŒrgermeister wie der damalige OberbĂŒrgermeister von Essen, Wilhelm Nieswandt, beklagten sich ĂŒber das negative Bild, Lokalzeitungen schimpften, wĂ€hrend das Fotofachpublikum begeistert war. So rĂŒhmt denn der FAZ-Journalist Karl Korn Chargesheimer als âDante mit der Kameraâ (10.01.1959).
Aus Protest gegenĂŒber den beiden Kölnern brachte der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk im darauf folgenden Jahr den ebenfalls aufwĂ€ndig gestalteten Band âRuhrgebiet â PortraÌt ohne Pathosâ von Fotograf Fritz Fenzl heraus und in der Folge erschien eine Halde von BildbaÌnden und FotobuÌchern, die bis heute nicht abgeebbt ist. Es lĂ€sst sich sagen: Mit BoÌllChargesheimer wurde das Ruhrgebiet als Thema fuÌr fotografische Reportagen populaÌr.
Heinrich Böll: ” .. man schuf ‘Industrielandschaft’, doch dieser Begriff, der so nĂŒchtern klingt, ist nur eine romantische VerbrĂ€mung.”
Chargesheimer parierte damals die Kontroverse mit: “Dabei habe ich die hĂ€rtesten Photos gar nicht veröffentlicht.” (Der Spiegel, 04/1959, S. 59) Doch die Besucher der aktuellen Ausstellung im Ruhrmuseum bekommen keinen Blick auf diese “hĂ€rtesten Photos”. Vielleicht war diese ĂuĂerung auch ein taktischer Bluff. Statt dessen sind teilweise auch die von Chargesheimer verworfenen “weicheren Fotos” ausgestellt.
Wieviel Chargesheimer steckt in der Ausstellung?
Nach Meinung der freien Redakteurin Sabine Tenta vom Radiosender WDR3 haben die Ausstellungsmacher eine grosse Chance vertan. Sie formuliert hierzu ihre GrĂŒnde: âEs stellt sich schlieĂlich die Frage, wieviel Chargesheimer steckt in der Ausstellung? Ganz am Ende der Bilderschau fĂŒhrt eine Treppe in einen kleinen Raum, in dem das Originalbuch ausliegt. Eine Rezitation des Böll-Textes beschallt den Raum in Endlosschlaufe. Zudem werden die Buchseiten auf eine Leinwand projiziert. So kann man, Böll im Ohr, sich ganz dem unverfĂ€lschten Chargesheimer widmen.â (S. Tenta auf WDR3)
Zu Chargesheimer: Der gebĂŒrtige Kölner (*1924) war vielseitig – Bildhauer, Maler, Lichtkinetiker und Fotograf. Dass er (noch) nicht in den fotografischen Olymp Ă la Werner Bischof, Robert Frank oder William Klein aufgenommen worden ist, hat nicht zuletzt mit seiner streitbaren Persönlichkeit zu tun.
DarĂŒber hinaus betĂ€tigte sich Chargesheimer als BĂŒhnenbildner, Schauspieler und Theaterregisseur. Hier kam es zum Skandal. Als er an der Kölner Oper in Luigi Nonos Oper »Intolleranza« abstrakte Lichtgrafiken mit Aufnahmen von Auschwitz ĂŒberblendet, ist das sogar dem Grandseigneur der Kölner Fotografie L. Fritz Gruber zuviel.
Am 31. Dezember 1971 setzte Chargesheimer seinem Leben ein Ende, 1972 erhielt Heinrich Böll der Literaturnobelpreis zuerkannt.
Die Entdeckung des Ruhrgebiets â was bedeutet das?
Diese Region hat unzĂ€hlige Facetten, niemand kann es in seiner Vielfalt vollstĂ€ndig entdecken, geschweige denn abbilden. Sisyphusarbeit zum Thema leistet ĂŒbrigens das Pixelprojekt Ruhrgebiet, initiiert von Peter Liedtke. Es sammelt serielle Fotografie zu einzelnen Aspekten der Region Ruhrgebiet im Internet. Im Ergebnis soll das fotografische GedĂ€chtnis der Region sichtbar gemacht werden.
Zur Ausstellung in Essen erschien im Verlag der Buchhandlung Walther KoÌnig ein 340 Seiten starker Katalog, der alle Fotografien der Ausstellung und die wichtigsten FotobuÌcher der letzten sechzig Jahre praÌsentiert. AufsaÌtze von Stefanie Grebe, Heinrich Theodor GruÌtter, Dieter Nellen, Andreas Rossmann und Sigrid Schneider interpretieren die Fotografien von Chargesheimer und das begleitende Essay von Heinrich BoÌll, die Kontroverse, die das Buch hervorgerufen hat, die Geschichte der BildbaÌnde und FotobaÌnde, die in der Folge entstanden sind und den damit verbundenen Wandel des oÌffentlichen Bildes des Ruhrgebiets.
“Chargesheimer. Die Entdeckung des Ruhrgebiets”
bis 18. Januar 2015
Ruhr Museum
UNESCO-Welterbe Zollverein
Areal A [Schacht XII], KohlenwaÌsche [A14]
Gelsenkirchener Str. 181
45309 Essen
Â
www.ruhrmuseum.de
Links:
http://www.ruhrmuseum.de/sonderausstellungen/vorschau/
http://de.wikipedia.org/wiki/Chargesheimer
http://www.stadtrevue.de/archiv/archivartikel/1393-ein-querkopf-mit-kamera/
http://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_B%C3%B6ll
http://www.fotografenwiki.org/index.php?title=Fritz_Fenzl
http://de.wikipedia.org/wiki/Pixelprojekt_Ruhrgebiet
Text und Ausstellungsfotos:
Hartmut S. BĂŒhler, Fotograf
Heinrich Böll: “Ich will ihnen die Welt zeigen, wie sie ist, unsere Welt in all ihrer HĂ€rte, ihrer Fremdheit, ihrer Heiterkeit.”
Diskussionsveranstaltung ĂŒber den Bildband “Im Ruhrgebiet” in Kettwiger-Tor-Haus, Essen-Stadtmitte, 3. Februar 1953
Das Ruhr Museum auf Zollverein in der ehemaligen KohlenwÀsche.