Da lebt man im Ruhrgebiet und beschäftigt sich mit Fotografie, erntet Missachtung von denen, die mit anderer Kunst (und vor allem ohne Kunst) unterwegs sind, freut sich über kleine Erfolge und plötzlich fühlt man sich im Mittelpunkt einer Bewegung, die weit über die Region, über Deutschland und Europa hinausgeht. Gut, in einem Elfenbeinturm, aber an der Sitze einer Bewegung (heute würde man wohl eher Netzwerk sagen) in der es um nichts anderes ging, als um die Wahrnehmung der Welt, mit eigenen Augen und eigenem Verstand sowie um deren eigenständige Darstellung.
So mein Gefühl zur aktuellen Ausstellung im Folkwang – einem Muss für jeden Fotografieinteressierten im Ruhrgebiet und anderswo.

Uschi Blume, Werkstatt für Photographie , 1980. Aus der Serie Worauf wartest Du?
Die Ausstellung “Werkstatt für Photographie” ist eigentlich dreigeteilt: c/o Berlin – Sprengel Museum, Hannover – Museum Folkwang, Essen. Es geht um die Werkstatt für Photographie des ehemaligen Polizisten und späteren Fotografen Michael Schmidt 1976 – 86 an der VHS Berlin Kreuzberg – 40 Jahre nach seiner Gründung. Initiator der Ausstellung ist Thomas Weski ein, Wegbegleiter der Werkstatt, früher selbst Fotograf (GHS Kassel), Kurator am Sprengel Museum, dann Museum Ludwig in Köln und schließlich stellvertretender Direktor am Haus der Kunst in München. Seit Oktober 2015 ist er Kurator der Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt in Berlin.
c/o Berlin zeigt unter dem Titel “Kreuzberg-Amerika” die Geschichte der Werkstatt, die in der VHS Berlin Kreuzberg nahezu ein eigenes Institut für zeitgenössische Fotografie unterhielt. Es ging dabei um die inhaltliche Auseinandersetzung in der Fotografie und um ihre Eigenständigkeit, nicht um die Übernahme irgendwelcher Stile und schon gar nicht um Geld und Dienstleistung. Michael Schmidt unterrichtete im Beuys’schen Sinne ohne Zugangsbeschränkung und diskutierte; er gab Workshops bzw. organisierte sie, machte Ausstellungen, organisierte Vorträge und war schließlich (mit)verantwortlich für eine fotografische Haltung einer bestimmten Gruppe von Profis und Amateuren, die sperrig (rebellisch) zum Mainstream stand.
Und er war verantwortlich für einen Austausch mit der „neuen“ amerikanischen schwarz/weiß und New Color Photography – Robert Adams, Larry Clarke, William Egglestone, Larry Fink, Robert Frank, Stephen Shore u.a. Diese brache er nach Deutschland und zeigte sie im Berliner Amerikahaus – jetzt c/o Berlin. Und alle Fotointeressierten kamen nach Berlin, um deren Werke zu sehen, mit den Fotografen zu sprechen und von ihnen zu lernen.

Michael Schmidt, Werkstatt für Photographie

Larry Fink
1979 und 1980 lehrte Michael Schmidt kurz nach dem Tode von Otto Steinert (1978) und somit in einer Zeit der Verunsicherung und Suche an der Folkwangschule. Er schuf eine Achse Essen (Ruhrgebiet) – Berlin – Amerika. Und er schuf auch eine Achse jenseits von Diplomen, Meisterschülertum, Bachelor und Masters of Art, Kunstmarkt und ähnlichem in einem Umfeld der Rebellion gegen das Herkömmliche. So dann auch der Titel der Essener von Florian Ebner kuratierten Ausstellung “Das rebellische Bild”. Hier geht es vielfach um die Fotografen der Essener Schule: Gosbert Adler, Uschi Blume, Joachim Brohm, André Gelpke, André Grossmann, Volker Heinze, Andreas Horlitz, Knut Wolfgang Maron, Petra Wittmar u.a. (einige davon Pixelprojekt Fotografen).
Und es geht um die kuratorischen Projekte von Ute Eskildsen (selbst Steinert Schülerin) – allen voran die Ausstellung “Reste des Authentischen”. Ihr ist es zu verdanken, dass die fotografischen Sammlung des Museums schließlich weltweite Anerkennung erhielt. Und es geht um ein damals neues, postmodernes subjektives Wirklichkeitsverständnis.

Joachim Brohm, Revierpark 1982
In der Ausstellung sieht man bekanntes und unbekanntes. So die Arbeit von Petra Wittmar zu den Spielplätzen in Essen, die sie systematisch nach einer Liste der Stadt “durchgearbeitet” hat. So die fast endlosen Polaroid Porträts von Knut Wolfgang Maron (der mit den meisten Bildern in der Ausstellung).
Am beeindruckendsten fand ich jedoch die Arbeit von Andreas Horlitz und Reinhard Matz “Fotonetz”. Schon 1983 hatten sie den Versuch gestartet über Microfiche “Fotoprojekte möglichst umfangreich bzw. komplett zu zeigen” – so der Handzettel mit der Ankündigung des Vorhabens! Ähnlich wie Pixelprojekt_Ruhrgebiet, das sich ja auch der Autorenfotografie verpflichtet sieht, waren die Projektmacher auf der Suche nach einer möglichst kostengünstigen Methode Werke in die Öffentlichkeit zu bringen. Und das Internet gab es ja noch nicht.
Seinerzeit sahen die Herausgeber sich und das Publikum vor die Alternativen “Original oder Massenkopie, Information oder Nicht-Information, Kommunikation oder Schublade” gestellt. Und ähnlich zu Pixelprojekt_Ruhrgebiet fanden auch hier diverse Bildautoren die Form für ihre Arbeit unpassend. Trotzdem gelang es drei Jahre lang jeweils 20 Fiche mit je 49 Bildern (incl. Einleitungstext) zu verbreiten. Allein heute fehlt die Technik (die Microfichelesegeräte) um die Arbeiten zu betrachten. Früher standen diese in jeder (Uni) Bibliothek.
Siehe auch: kasselerfotoforum.

Microfiche-Lesegerät mit der Arbeit Fotonetz. Auf dem Monitor ein Foto von Kurt Schrage zur Anti Reagan Demo in Berlin. Ausstellungsfoto: Peter Liedtke
Und zur Ausstellung gehört auch eine (Colenta) Farbmaschine . Diese technische Ausstattung und der dazugehörige technische Leiter Eckard Gollnow (Inge Oswald und Erich vom Endt übernahmen hier die entscheidende Initiative) gehört wohl ebenso zu den wichtigsten Rahmenbedingungen der neuen Essener Schule nach Steinert. Anders als heute am Rechner hatten die Fotografen nur so die Möglichkeit ihre Farbgestaltung zu kontrollieren und die Bilder auf den Punkt zu bringen. (Oh ja, wieviel Zeit habe ich selbst im Farbabor verbracht, zunächst an der Uni und später in der Ateliergemeinschaft ICONOS).

Foto: Peter Liedtke – v.l.n.r. Wilmar Koenig, Volker Heinze, Petra Wittmar, Knut Wolfgang Maron, Florian Ebner
So viel zu Essen. 300 Exponate von 30 Fotografinnen und Fotografen in sieben Räumen auf 690 Quadratmetern. Und auch ein Zweitbesuch lohnt!
In Hannover im Sprengel Museum – lange Jahre einer der wichtigsten Hotspots für Fotografie in Deutschland – wird der Fokus auf die Vorgeschichte und das Umfeld dieser oben beschriebenen Fotografiebewegung gerichtet. Der Titel dieser Ausstellung lautet: “Und plötzlich diese Weite”. Zu nennen sind hier insbesondere die Schweizer Zeitschrift CAMERA (von 1966-1981), die ersten deutschen Fotogalerien – Album Fotogalerie Köln, (Ann und Jürgen Wilde), Galerie Lichttropfen Aachen (Rudolf Kicken und Wilhelm Schürmann) und Galerie A. Nagel Berlin (Alexander Nagel) und die (Medien) Documenta 6 (unter Manfred Schneckenburger) in Kassel und den Fotografieverantwortlichen Klaus Honnef und Evelyn Weiss. Später kamen dann Camera Austria und Forum Stadtpark Graz sowie die Spectrum Photogalerie Hannover dazu.
(Im Ruhrgebiet ist wahrscheinlich die Galerie Lichtblick (1977-81) von Jürgen Spiller die erste Galerie, die sich ganz und gar der Fotografie verschreibt.)
Ja, nicht schon immer wurde Fotografie als Kunst akzeptiert. Und gerade heute in einer Zeit, in der soviel fotografiert und publiziert wie nie zuvor, wird es fast noch bedeutsamer, das Besondere und Einzigartige in der aktuellen Fotografie zu entdecken und sichtbar zu machen.
Und das geht über Diskussion und Auseinandersetzung – zu Form und vor allem zu Inhalt!
Text: Peter Liedtke
Werkstatt für Photographie 1976 – 1986
Eine Kooperation von C/O Berlin, Museum Folkwang, Essen, und Sprengel Museum Hannover
Initiator und Hauptkurator: Thomas Weski
Museum Folkwang
Das rebellische Bild
Situation 1980: Die Kreuzberger „Werkstatt für Photographie“ und die junge Folkwang-Szene
9. Dezember 2016 bis 19. Februar 2017
Kurator: Florian Ebner
C/O Berlin
Kreuzberg – Amerika
Die Berliner Werkstatt für Photographie 1976 – 86
10. Dezember 2016 bis 12. Februar 2017
Kurator: Felix Hoffmann
Sprengel Museum Hannover
Und plötzlich diese Weite
Kleine transatlantische Fotografiegeschichte nach ’66
11. Dezember 2016 bis 19. März 2017
Kuratorin: Inka Schube