Auch wenn “Wir sind von hier. TĂŒrkisch-deutsches Leben 1990. Fotografien von Ergun ĂaÄatay” unter Tage im Ruhr Museum, in der KohlenwĂ€sche UNESCO-Welterbe Zollverein in Essen, prĂ€sentiert wird, ist diese Ausstellung ein Highlight dokumentarischer Fotografie.
60 Jahre tĂŒrkisch-deutsches Zusammenleben verdichtet in 120 Fotos sind auch eine Aufforderung, dieser Beziehung unsere Referenz und SolidaritĂ€t zu erweisen. Viele der ersten ArbeitskrĂ€fte fanden im Steinkohlenbergbau BeschĂ€ftigung und haben die Gemeinschaft des wirtschaftlich boomenden Nachkriegsdeutschland ĂŒber und unter Tage stark geprĂ€gt.

©Christoph Kniel mit Fotos von Ergun ĂaÄatay.
Zwischenbilanz einer Migrationshistorie
ĂaÄatay besuchte von MĂ€rz bis Mai 1990 Berlin, Duisburg, Hamburg, Köln und Werl und machte etwa 3.500 Aufnahmen aus der Arbeitswelt, dem Gemeinschafts- und Privatleben der ersten und zweiten Generation der sogenannten tĂŒrkischen Gastarbeiter*innen, von denen viele hier in Deutschland blieben und deutsche StaatsbĂŒrger*innen wurden. Dies war im 29. Jahr des zwischen Ankara und Bonn geschlossenen Anwerbeabkommens.
Heute, im 60. Jahr des Vertragsabschlusses, zeigen uns die Fotografien ĂaÄatays die Zwischenbilanz einer Migrationshistorie, die Deutschland maĂgeblich verĂ€nderte. Sie gilt als die umfangreichste Bildreportage zur tĂŒrkischen Einwanderung und PrĂ€senz, die es hierzulande gibt. Und sie schlĂ€gt auch eine BrĂŒcke in die Gegenwart der dritten und vierten Generation TĂŒrkeistĂ€mmiger.

©Christoph Kniel mit Fotos von Ergun ĂaÄatay.
Sonntagsseiten
Stimmt: Es werden eher Sonntagsseiten gezeigt. Denn ĂaÄatay wollte beweisen, dass die Bonner Republik mit der tĂŒrkischen Community gemeinsam aufgebaut wurde, die die gröĂte Gruppe der Arbeitsmigrant*innen bildet. Essayist, Kurator und Buchautor Peter Stephan hob 2015 mit Ergun zusammen das Konvolut von 1990, das im Entstehungsjahr nicht vermarktet werden konnte.
Nur mit viel Ăberzeugungskraft konnte Stephan, von 2008-14 Leiter der Goethe-Institute in Kigali und Ouagadougou, ĂaÄatay dazu bewegen, den Bilderschatz von 1990 ans Tageslicht zu hieven, damit er der Ăffentlichkeit zugĂ€nglich gemacht werden kann.
Schattenseiten
Schattenseiten: Er fotografierte die SchĂ€ndungen auf dem islamischen Friedhof Columbiadamm in Berlin-Neukölln, widmete sich der Berlin-Kreuzberger Jugendbande 36 Boys. Oder zeigt die Demonstration gegen das neue AuslĂ€ndergesetz in Hamburg, wonach eine doppelte Staatsangehörigkeit nur in AusnahmefĂ€llen zugestanden wird. Zudem gibt es kaum ein Foto, das TĂŒrken und Deutsche gemeinsam zeigt.

©Christoph Kniel mit Fotos von Ergun ĂaÄatay.
Auch fehlen Bilder der HĂ€rten, mit denen ĂaÄatays Protagonisten in einem nicht immer wohlgesonnenen Umfeld zu kĂ€mpfen hatten. Alltagsrassismus und menschenverachtende Arbeitsbedingungen, wie sie etwa GĂŒnter Wallraff als âTĂŒrke Aliâ in seinem Bestseller âGanz untenâ 1985 beschrieb, kommen nicht vor.
Das Ruhr Museum zeigt keine Sozialreportage Ă la Dorothea Lange oder Walker Evans. Jedoch an- und berĂŒhrende Momentaufnahmen von 1990, die sich jeder zeitgeschichtlich Interessierte ansehen sollte.

©Christoph Kniel mit Foto von Ergun ĂaÄatay.
Themen-Kaleidoskop
Es ist ein Kaleidoskop der Themen Arbeitsalltag, MÀnnercafé, Imbiss-Restaurant, Basar, Hochzeit und Bauchtanz, Wohnzimmer und Zuhause, das eigene Auto, die Familie, Nachbarschaftsschwatz, FriseurgeschÀft, Beschneidungsfeier, im Hamburger Hafen, Warten in der AuslÀnderbehörde in Hamburg, unter Tage Bergbau, LebensmittelgeschÀft und Metzgerei, im Arkadas Theater Köln, in Moscheen.
Exemplarisch dieses Bild mit einem Gedicht des Dichters und Dramatikers Nazim Hikmet (1902-63) am Sudermanplatz in Köln.:
Im Vordergrund zwei Kinder mit Luftballon. An der Mauer im Hintergrund der letzte Vers aus einem berĂŒhmten Gedicht Hikmets (Einladung â Davet), hierzulande besonders bekannt geworden durch Musiker Hannes Wader:
YaĆamak bir aÄaç gibi
tek ve hĂŒr ve bir orman gibi
kardeĆçesine,
bu hasret bizim.
Leben einzeln und frei
wie ein Baum und dabei
brĂŒderlich wie ein Wald,
diese Sehnsucht ist unser.
(SinngemĂ€Ă: “Wir sehnen uns nach einem Leben wie ein Baum, frei stehend in einem Wald der Gemeinsamkeit.”).

©Christoph Kniel mit Foto von Ergun ĂaÄatay.
Biografisches
Ergun ĂaÄatay (1937-2018) war Fotograf, Fotojournalist und Autor. In Izmir geboren, studierte er nach seinem Abschluss am Istanbuler Robert College an der RechtsfakultĂ€t der Istanbuler UniversitĂ€t.
Seine berufliche Laufbahn begann als Texter in einer Werbeagentur. Ab 1968 arbeitete er als Fotojournalist fĂŒr die Agentur Associated Press. Danach war er fĂŒr verschiedene Unternehmen und Agenturen tĂ€tig, darunter Gamma in Paris und Time Life in New York.
1983 erlebte ĂaÄatay einen Terroranschlag am Flughafen Orly in Paris mit und wurde hierbei schwer verletzt. Acht Personen starben bei diesem Anschlag, ĂŒber 50 wurden verletzt. Er verbrachte eineinhalb Jahre mit schweren Hautverbrennungen in einem Pariser Krankenhaus. Danach konnte er an frĂŒhere Projekte zunĂ€chst nicht wieder anknĂŒpfen und wandte sich von tagesaktuellen Themen ab.
Nach seiner Genesung handelte einer seiner ersten Fotoberichte von Brandopfern in der Klinik, deren Patient er war. ĂaÄatay beschĂ€ftigte sich in den 1980er Jahren mit dem Klimawandel und dokumentierte 1988 die Umweltkatastrophe des Aralsees in Fotografien und in einem Film. FĂŒr den Film erhielt er auf dem Filmfestival in Antalya im Jahr 2000 den ersten Preis. 1990 entstanden fĂŒr das Projekt »TĂŒrken in Deutschland« etwa 3.500 Fotografien.
Im Anschluss an diese Deutschlandreportage bereiste ĂaÄatay ab 1993 zwölf Jahre lang Mittelasien auf den Spuren der turksprachigen Völker und ihrer Migrationen. Hieraus entstand das 500 Seiten starke Buch The Turkic Speaking Peoples â 2000 Years of Art and Culture from Inner Asia to the Balkans.
Zur Jahreswende 2016-17 wurden erstmals Aufnahmen des oben genannten Deutschlandprojektes in der tĂŒrkischen Botschaft in Berlin ausgestellt. 2018 folgte eine Ausstellung im MĂ€rkischen Museum in Berlin, deren Eröffnung ĂaÄatay nicht mehr erlebte: Am 15. Februar 2018 starb er in Istanbul nach einer Herzoperation. Er gilt neben Ara GĂŒler (*1928-2018) als bedeutendster Fotojournalist und -kĂŒnstler der TĂŒrkei.
Die Ausstellung des Ruhr Museums ist die erste groĂe Ausstellung, die aus dem Deutschlandprojekt 120 Fotografien in AbzĂŒgen und mehr als tausend Fotografien in einer Medieninstallation zeigt.
Bis 31. Oktober 2021 im Ruhr Museum, Essen.
Text: Hartmut BĂŒhler
Ausstellungsfotos: Christoph Kniel
Blick in die Ausstellung im Ruhr Museum auf dem Welterbe Zollverein in Essen. ©Christoph Kniel mit Fotos von Ergun ĂaÄatay.

©Christoph Kniel mit Fotos von Ergun ĂaÄatay. Beim Besuch der Untertagewelt in der Zeche in Duisburg-Walsum muss er die Batterien aus seiner Kamera entfernen und ein werkseigenes BlitzgerĂ€t nutzen, um kein Schlagwetter auszulösen.Deutlich zu sehen der Sfumato-Effekt. Sfumato (deutsch verraucht, verschwommen) bezeichnet eine Technik in der Ălmalerei, Konturen nicht mit scharfen zeichnerischen Umrissen darzustellen, sondern mit rein malerischen Mitteln weich verschwimmen zu lassen und alles mit Weichheit zu umgeben. Als Erfinder gilt Leonardo da Vinci (1452â1519), der den Begriff sfumato prĂ€gte.