Eine fotografische ‘Vertrautheit mit den Dingen’
Geboren in Goch. In Gera zur ‘genialen KĂŒnstlerin’ gereift (so Geraer Zeitung am 10. November 1930). Die fotografische Leistungsschau von Aenne Biermann (* 03. MĂ€rz 1898 in Goch â 14. Januar 1933 in Gera) im Museum Folkwang in Essen ist atemberaubend.
Mein Appell an die Fotofans lautet: Fahrt nach Essen und staunt ĂŒber Biermanns virtuose ‘Vertrautheit mit den Dingen’: Pflanzenstudien, StraĂenszenen, geologische Aufnahmen, Alltagssituationen, Akte und Portraits. Das ‘Neue Sehen’, die ‘Betrachtung’ der unmittelbaren Umwelt und die damit verbundene SubjektivitĂ€t bilden den Kern von Biermanns Schaffen.

Aenne Biermann: Portrait mit Boulevard de la Grande-Armée (1931)
Ich wage gar nicht alle meine Lieblingsbilder zu nennen und beschrĂ€nke mich daher auf wenige Motive: SelbstportrĂ€ts mit Metallkugel (1930/31), Portrait mit Boulevard de la Grande-ArmĂ©e’ (1931), Selbstportrait – Collage (ca. 1930), Tochter (1930), Old (1930), Da unten geht etwas vor (1929), Helga – Betrachtung (um 1930) â es handelt sich auch um das Plakatmotiv zur Essener Ausstellung, Schlafende im Sande (1929), Spiegelei-en: ein lĂ€chelnder Mann mit glĂ€nzendem Gesicht (1929/30) in Kombination mit einem gebratenen Spiegelei (vor Juli 2929), Dame mit Monokel (1928), TĂ€nzerin Hilde Engel (1929) und Portraits von Anneliese SchieĂer (1931).

Aenne Biermann, Kaktus, 1928â29
Innerhalb von nur sieben Jahren schaffte es die musikalische Tochter eines Leder- und Schuhfabrikanten aus Goch zur Avantgardefotografin in Gera. In knapp 34 Lebensjahren hat sie AuĂerordentliches bewirkt. In einem Alter, in dem wohl die meisten Menschen noch stark mit der eigenen Entwicklung beschĂ€ftigt sind, hat sie sich an der Spitze der Fotokunst etabliert.
1930 fand in Jena die erste gröĂere Ausstellung mit Biermann-Werken statt. Wie Lucia Moholy, Florence Henri und Germaine Krull war sie auch auf internationalen Fotoausstellungen der frĂŒhen 1930er Jahre vertreten. Die Entwicklung der Fotografie zur eigenstĂ€ndigen Kunstform zwischen den beiden Weltkriegen ist sicher auch ihr Verdienst. Noch zu ihren Lebzeiten wurde sie in ‘einem Atemzug’ genannt mit LĂĄzlĂł Moholy-Nagy.

Aenne Biermann, Kinderhaende 1928
Anna Sibilla Biermann, geborene Sternefeld, starb wenige Tage vor der Machtergreifung an einer schweren Krankheit. Die nationalsozialistische Verfolgung und Enteignung ihrer Angehörigen erlebte sie nicht mehr. Ihr Mann Max Biermann, Textilkaufhausbesitzer in Gera und die gemeinsamen Kinder Helga und Gerd konnten zum GlĂŒck noch nach PalĂ€stina emigrieren. Ihr etwa 5.000 Fotografien umfassendes Archiv wurde in Triest beschlagnahmt, nach Deutschland zurĂŒckgeschickt und gilt seit dieser Zeit gröĂtenteils als verschollen.
Das Geraer Museum fĂŒr Angewandte Kunst, das Aenne Biermann einen eigenen Raum seiner Dauerausstellung widmet, vergibt seit 1992 alle zwei Jahre den Aenne Biermann-Preis fĂŒr deutsche Gegenwartsfotografie. Im Dezember 2009 wurde der Geraer Volkshochschule der Name “Aenne Biermann” verliehen. Seit 2008 trĂ€gt auch ein Fahrzeug der Geraer StraĂenbahn ihren Namen. Meiner Ansicht wĂ€re noch mehr WertschĂ€tzung erwĂŒnscht.

Aenne Biermann, SelbstportraÌt, 1930â1931
Wenn stimmt, was die FAZ online vom 26. September 2019 schrieb: ⊠Biermann gilt als bedeutendste deutsche Avantgarde-Fotografin der 1920er Jahre. ⊠Paradox wirkt, dass ihre Heimatstadt sich einerseits der Bedeutung Biermanns durchaus bewusst scheint, selbst aber kein Interesse am Erwerb der Biermann-Villa und einer angemessenen Nutzung zeigt. ⊠Ein Ausstellungshaus fĂŒr die bereits erworbenen Meisterfotografien der berĂŒhmten Tochter der Stadt stĂŒnde Gera neben seinem vielbeachteten Otto-Dix-Haus gut zu Gesicht.
Ăbrigens: gĂ€be es heutzutage eine jĂŒdische Fotografin im thĂŒringischen Gera, sie hĂ€tte es nicht leicht. Von 42 Sitzen im Stadtrat hat die AfD 12 inne. Sie ist mit 28,8 Prozent stĂ€rkste Fraktion.

Aenne Biermann, Betrachtung 1930
1987 richtete das Museum Folkwang in Essen eine umfassende monografische Ausstellung mit Werken Biermanns aus, die zur Wiederentdeckung der Fotografin fĂŒhrte.
Lese- und Sehtips: die Monografie “Aenne Biermann Fotografin”, herausgegeben von Simone Förster und Thomas Seelig, Verlag Scheidegger & Spiess. Und/oder der erweiterte Neudruck der Publikation ‘Der literarische Foto-Streit’ Aenne Biermann von Franz Roh inkl. 60 Fotos. Dieser Reprint eines BĂŒchleins vom Oktober 1930 prĂ€sentierte eine Autorin, die mit jedem einzelnen Bild als ‘Werk’ ĂŒberzeugen wollte und – konnte.
Die aktuelle Ausstellung ist eine Kooperation mit den Bayerischen StaatsgemĂ€ldesammlungen, Stiftung Ann und JĂŒrgen Wilde, Pinakothek der Moderne, MĂŒnchen. Das Museum Folkwang zeigt 130 Fotografien sowie Briefe und historische Publikationen in SchaukĂ€sten.
Noch bis zum 1. Juni 2020
museum-folkwang.de
Text: Hartmut BĂŒhler, Fotograf; DĂŒsseldorf