Was war und was ist
Die ‘Dringlichkeit’ des Dokumentarischen liegt im ethischen Dilemma begründet, von einem Geschehen Zeugnis ablegen zu sollen, das als solches nicht zu vermitteln ist, sondern notwendig Elemente von Wahrheit ebenso wie ‘Dunkelheit’ enthält. – Hito Steyerl, Autorin und Filmemacherin.
„Die Ausstellung vereint vielfältige Arbeiten, für die sich die Fotografinnen und Fotografen mit der politischen und sozialen Verfasstheit unserer Welt auseinandersetzten, kreisen inhaltlich um gesellschaftspolitisch relevante Fragen der Gegenwart. Methodisch, formal und technisch loten sie die auslaufenden Grenzen einer fotodokumentarischen Wirklichkeit aus.“ (Pressetext).
Warum lässt mich das Gesehene kalt, warum blitzt hier nichts auf, wodurch ich fasziniert und berührt werde – wo ist die Magie? Ist es mir etwa zu ‘künstlerisch’? Die Fotos, an denen ich am längsten und dennoch nur kurz verweilte, zeigt Gesichter: sie stammen von Joscha Steffens (*1982).
Mit seinem Projekt Nexus widmet sich Steffens „dem Phänomen von Jugendlichen, die durch gemeinsames Computer-Gaming zu einer (quasi-)religiösen Erfahrung einer Glaubensgemeinschaft gefunden haben“. Er fotografiert „die Protagonisten des Gamingkults am Übergang von ihrem virtuellen Dasein als scheinbar allmächtiger Avatar zu der Rückkehr in die Realität – genau in dem Moment, wo sie im maßlosen kollektiven High des Spiels herausgeworfen werden.“

Ausstellungsfoto: KNSY
Im Ausstellungskatalog heißt es, die Förderpreisträger „vertreten eine solche künstlerische Haltung, die dazu einlädt, über die Gegenwart ins Gespräch zu kommen. Sie setzen ihre fotografischen Mittel mit Bedacht ein und reflektieren mit ihren Sujets unterschiedliche Zustände der Schwebe und Unsicherheit – eine instabile gesellschaftliche Situation, eine Annäherung an eine abstrakte Idee, die fließenden Grenzen zwischen der materiellen und der virtuellen Welt oder die ungewisse Situation einer Flucht.“
Jens Kleins (*1970) Arbeit Sunset präsentiert in mehr als 120 Schwarzweiß-Fotografien vermeintliche Orte der Flucht aus der DDR. Sein labyrinthisch visueller Essay wird ergänzt durch drei Texte in Stasi-Sprache wie diesen: Die unbekannte Person kam aus der Marienhofschlucht und verschwand auch wieder in dieser. Später wurde der Unbekannte beim Gestrüpp an der Schuttgrube gesichtet. In diesem Gebiet existieren schlecht oder gar nicht kontrollfähige Stellen. Alle Bilder stammen aus dem BStU-Archiv und wurden von MitarbeiterInnen der Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik zwischen 1961-89 aufgenommen. Der Titel Sunset verweist auf die Fluchtrichtung.

Ausstellungsfoto: KNSY
Mit Paradise Complex begibt sich Jiwon Kim (*1982) auf die „poetisch und humorvolle“ Suche nach dem vermeintlich irdischen Paradies Costa Rica. Ihre Fotos werden ergänzt durch bedruckte Kaffeetassen (Motiv: Berg, Himmel, Wolken) und einer vierminütigen Videoinstallation auf einem gelben Surfbrett. Und mit gleich zwei Motiven von zu Schwänen gefalteten Handtüchern macht sie aus ihrer Verehrung zu Alec Soth keinen Hehl.
Im Katalogtext bilanziert Kim, dass sie sich nach vier Wochen in Mittelamerika nicht mehr fragte, welches wohl der schönste Ort der Welt sei, „vielleicht musste ich das gar nicht wissen. Die schönsten Orte sind nirgendwo, wenn überhaupt, sehen wir sie in Artefakten, in den Souvenirs und Plakaten, Dekogegenständen oder Filmen, die ihre Ideen transportieren.“

Ausstellungsfoto: KNSY
Christian Kasners (*1983) setzt sich mit Nová Evropa mit den historischen Hinterlassenschaften und politischen Erwartungshaltungen der BürgerInnen in Tschechien und deren Auswirkungen auf die Idee eines vereinten Europas auseinander. Neben 33 Europa-Statements von SchriftstellerInnen und Politikern zeigt der Pixelprojekt-Ruhrgebiet Fotograf seine Bilder zum Thema im Bildband Nová Evropa auf zwei Beistelltischen. Kasner lebt in Ceská Lípa/Tschechien und Gladbeck.

Ausstellungsfoto: KNSY
Die Mitglieder der Jury für die Förderpreise DF12 waren Florian Ebner (Kurator und Leiter des Cabinet de la Photographie im Centre Pompidou, Paris), Beate Gütschow (Professorin für Künstlerische Fotografie, Kunsthochschule für Medien Köln), René Hartmann (Wüstenrot Stiftung, Ludwigsburg), Felix Hofmann (Hauptkurator C/O Berlin), Sara-Lena Maierhofer (Künstlerin und Preisträgerin des Dokumentarfotografe Förderpreises 10, Berlin).
Die Ausstellung PreisträgerInnen Dokumentarfotografie Förderpreis der Wüstenrot Stiftung auf 450 Quadratmetern Fläche, kuratiert von Christin Müller (Leipzig), ist bis 8. November im erweiterten und neu gestalteten Untergeschoss des Museums Folkwang zu sehen.
Der Preis gilt als bedeutendste Auszeichnung seiner Art in Deutschland. Die Förderpreise werden seit 1994 alle zwei Jahre von der Wüstenrot Stiftung in Zusammenarbeit mit der Fotografischen Sammlung des Museum Folkwang vergeben. Sie sind mit jeweils 10.000 Euro dotiert.
Parallel dazu wird gezeigt 21.lettres.a.la.photographie(at)gmx.de – ein gesellschaftskritisch konzeptuelles Mailart-Projekt. Dieses hinterfragt den Glauben an zeitgenössische fotografische Autorenschaft und wird erstmals präsentiert.
noch bis 8. November 2020
Text: Hartmut Bühler
Ausstellungsfotos: KNSY.de