Im Fotokaraoke von Dieter Zinn geht es um die Wahrnehmungen der inneren und äußeren Bilder, die unser Leben bestimmen. Es geht um Selbstbilder, Fremdbilder, Sinnbilder, Vorbilder: Wir sehen, fühlen und denken in den Sprachen der Bilder. Die Bilder im Kopf prägen das Selbstbild eines Menschen. Ihre Summe bildet ab, was in uns gleich bleibt: die Identität. Fotokaraoke steht für das Phänomen, dass wir selbst zum Bild werden, um uns mit anderen Bildern zu synchronisieren.
Der Begriff des Dokumentarischen in der Fotografie entstand aus dem Glauben, dass die Kamera als technischer Apparat die Realität vor der Optik genau so aufzeichnet, wie sie ist. Das war damals. Inhaltliche Ansprüche an dokumentarische Bilder gehen heute davon aus, dass Fotografien ohne manipulative Eingriffe analog, also in einem einzigen Vorgang entstehen.
Es geht inhaltlich in dokumentarischen Sehweisen darum, soziale, urbane, ästhetische Erscheinungen ohne verändernde Eingriffe direkt und vor Ort zu visualisieren. Dokumentarisch angelegte Fotografien definieren sich deutlich durch erzählerische, Milieu beschreibende Sehweisen. Dorothea Lange, Fotografin der Bildikone «Immigrant Mother», definierte in den 1930er Jahren ihr dokumentarisches Sehen: «Dokumentarphotographie bewahrt das soziale Umfeld unserer Zeit. Sie spiegelt die Gegenwart und dokumentiert für die Zukunft. Ihr Thema ist der Mensch in seinem Verhältnis zur Menschheit. Sie zeichnet ihre Verhaltensweisen … Sie zeichnet nicht nur ihre Fassade, sondern versucht die Funktionsweisen aufzudecken …» Je nach der Relevanz und Komplexität dokumentarisch angelegter Fotoarbeiten können Bildbetrachter zu denkendem Assozieren animiert werden, das sie über den Rahmen des Bildes hinaus auf neue Zusammenhänge und Erkenntnisse verweist.
In dokumentarischen Bildkontexten erscheinen soziale Zusammenhänge dann als glaubwürdig, wenn Beobachtungen und Anteilnahme der Bildermacher als individuelle Substanz der Fotografien begreifbar und nachvollziehbar werden. Subjektive Sehweisen in dokumentarischen Bildern, die aktuelle Bezüge und Ansichten des Fotografen zu sozial relevanten Themen herstellen, ermöglichen den Betrachtern, eigene Einsichten für das Thema zu entwickeln. Ohne Bezug zur sozialen Aktualität und deren Einordnung in einen historischen Kontext wiederfährt dokumentarischen Fotografien im Lauf der Zeit das gleiche Schicksal wie den meisten fotografischen Abbildungen der Vergangenheit: Sie wirken, von ganz persönlichen Erinnerungen abgesehen, entweder surreal oder wie Standfotos aus historisch inszenierten Spielfilmen.
Die Glaubwürdigkeit dokumentarischer Bilder bezieht trotz digitaler Bildmittel ihren Anspruch aus dem analogen Vor-Ort-gewesen-Sein der Bildermacher. Der Verweis auf Analogie ist unverzichtbar, weil durch ihn die Verbindung von Objektpunkt und Bildpunkt, also die Entstehung des Bildes in einem einzigen Vorgang, belegt wird. Seit einigen Jahren werden die Begriffe «analog» für damals (chemische Bildfixierung) und «digital» für heute (mathematische Bildfixierung) verwendet. Dabei ist eine Art «Ehrenkodex» dokumentarisch deklarierter Bilder auch in der digitalen Bilderstellung bis heute geblieben. Zu ihm gehören Verzicht auf Inszenierungen und die Vermeidung inhaltlich verändernder Eingriffe, besonders für bildverändernde Nachbearbeitungen im digitalen Workflow.
Das ist einfach gesagt, wenn man dem Dichter Thoreau folgen will, der vor mehr als 150 Jahren davon ausging, dass man «nicht mehr sagen kann als man sieht». Damit meinte er ein Sehen, das vor Ort auch alle anderen Sinne der Wahrnehmung mit einschließt. Er hatte nichts gewusst von dem veränderten Blick durch die digitalen Bildmittel, der schon bei der Fixierung des Bildes im Sucher der Kamera die spätere digitale Nachbearbeitung mit einkalkuliert. Das ist neu, doch was in der fotografischen Vorgehensweise zeitlos bleibt, ob mit oder ohne digitale Bildkalkulation, ist der vorprogrammierte Blick. Der Bildausschnitt, die Idee, das Ziel, etwas Bestimmtes sehen zu wollen, lenken den Fokus genau auf das, was für das Konzept nützlich, für das Thema relevant, für die Bildsprache geeignet erscheint.
In der «Nouvelle Vague», einer Bewegung des französischen Films in den 1960er Jahren, ging es in der Philosophie des Sehens um die Wahrnehmungen von Dokument, Realität und Fiktion auf einer Bildebene. Für J. L. Godard, den wichtigsten Regisseur dieser Ära, entstand erst im Blick und seiner Fiktion der entscheidende Moment der Kommunikation. Für ihn war die Fiktion als Eindruck der Realität genau so real wie das Dokument als Ausdruck der Wirklichkeit, jedoch auf einer anderen Ebene. Die Fiktion wurde bei ihm als ein anderer Moment von Realität verstanden. Hier können dokumentarische Bildermacher auch heute noch anknüpfen, um Eindruck und Ausdruck so ins Bild zu bringen, dass das Fiktive eines dokumentarischen Bildes offensichtlich wird. So wird der Eindruck vermieden, dass die Orte dokumentarischer Bildpräsentationen nicht wichtiger erscheinen als die Orte und Menschen, die auf diesen Bildern zu sehen sind.
Dieter Zinns Buch “Fotokaraoke” erscheint im Oktober 2013 im Mitteldeutschen Verlag, Halle.
ruhr.speak veröffentlicht Auszüge in lockerer, aber alphabetischer, Reihenfolge.