Erstmalig gemeinsam prĂ€sentiert die amerikanische KĂŒnstlerin Taryn Simon Arbeiten aus ihren drei sehr umfangreichen Werkreihen “The Innocents” (2002), “An American Index of the Hidden and Unfamiliar” (2006-07) und “A Living Man Declared Dead and Other Chapters I â XVIII” (2011) der Ăffentlichkeit. Die KĂŒnstlerin selbst hat die Werkschau mit dem Titel âThere Are Some Who Are in Darknessâ aus den BestĂ€nden des Sammlers Thomas Olbricht zusammengestellt.
Bei den Werkkomplexen geht es um unschuldig zum Tode verurteilte US-BĂŒrger. Des weiteren um unbekannte und verdrĂ€ngte Sachverhalte, Tabus, Orte und Institutionen des gesellschaftlichen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens der USA.
DarĂŒber hinaus beim Zyklus “A Living Man Declared Dead and Other Chapters I â XVIII” um âdie individuelle Dimension menschlicher Schicksale, psychologische Disposition und Vererbung, mit den externen Faktoren sozialer Determinierung, wie Politik und Territorium, Abstammung und Klasse. Die groĂe, weltweit recherchierte Saga aus achtzehn Kapiteln, von denen sechs in Essen zu sehen sein werden, berichtet auch von den historischen Verwerfungen und globalen Verflechtungen menschlicher Schicksale, die das 20. Jahrhundert hinterlassen hatâ.
âWas Taryn Simons verschiedene Arbeiten gemeinsam haben, ist die Frage, wie die Fotografin die ,Dark Side of Lifeâ beleuchtet, bisher Ungesehenes sichtbar macht und Unbesprochenes in den sozialen Diskurs einschleust. Das methodisch Spannende und Innovative all ihrer Werke liegt aber auch in der Art und Weise, wie die textliche ErzĂ€hlung das Bild erweitert, wie Fotografie und Text zu einer untrennbaren Einheit werden. Damit gehört sie zu den wichtigsten Positionen eines erweiterten fotografischen Dokumentarbegriffs und findet eine Antwort auf den bekannten Vorwurf Bertolt Brechts an die Fotografie *, das Medium verstĂŒnde nichts von den sozialen ZusammenhĂ€ngen hinter dem Sichtbarem.â (Zitat Pressetext Museum Folkwang)
âThere Are Some Who Are in Darknessâ
Die Headline der Ausstellung âThere Are Some Who Are in Darknessâ nach einer Textzeile aus Bertolt Brechts Moritat âMackie Messerâ birgt einen Doppelsinn. Das zentrale Motiv der Arbeit Simons ist âdie Sichtbarmachung von bisher Verborgenemâ. So lautet denn der Vierzeiler Brechts âDenn die einen sind im Dunkeln / und die anderen sind im Licht / Und man siehet die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht.â
Mit intensivster Neugierde und monate- bis jahrelanger Ausdauer verfolgt die AufklĂ€rerin mit der (GroĂformat-)Kamera ihre selbst gestellten Themen. TatsĂ€chlich erinnert ihre Ausdauer an Sisyphus, fast felsgroĂ ist ihr 864 Seiten starker Katalog zum Werkzyklus A Living Man Declared Dead and Other Chapters.
Nicht nur an die PrĂ€sentation und exzellente Optik stellt die US-Amerikanerin höchste AnsprĂŒche. Gleichwertig sind die Texte, ohne die die Bilder nicht zu verstehen sind. Ihre prĂ€zise Sprache, die sich Wertungen des Gezeigten enthalten, steigert den leisen Horror der Leser-Betrachter.
Taryn Simon: THE INNOCENTS: Charles Irvin Fain – Tatort, Snake River, Melba, Idaho. Er verbĂŒĂte 18 Jahre einer Todesstrafe wegen Mord, Vergewaltigung und EntfĂŒhrung. (fotografiert in der Ausstellung von Hartmut S. BĂŒhler)
SchaukÀsten à la Naturkundemuseum
Doch die gewĂ€hlte Form der PrĂ€sentation â SchaukĂ€sten Ă la Naturkundemuseum â stellt denn auch die Schwachstelle der Ausstellung fĂŒr Besucher dar. Wollen schon mehr als zwei Personen die kleinformatigen Fotos, ErklĂ€rungen und kleingedruckten Texte sehen und lesen, fĂŒhlt man sich gedrĂ€ngt, gestört und geht dann weiter zum nĂ€chsten Tableau. Hier wieder das gleiche Moment: Es frustet, weil sich die Tragweite des Gesehenen ohne die Texte tatsĂ€chlich nicht erschlieĂt – ein GefĂŒhl der Resignation stellt sich ein.
Foto: Hartmut S. BĂŒhler
KĂŒnstlerische Fotografie gegen Reportage-Fotografie
Am 11. November publizierte Prof. Klaus Honnef, Kunsthistoriker, Theoretiker fĂŒr kĂŒnstlerische Fotografie, auf Facebook: âWĂ€hrend sich fĂŒr die Kunstfotografie das Tor zur Langweile immer weiter öffnet, pendelnd zwischen Wandaktie und Wandschmuck, gewinnt eine hĂ€ufig totgesagte Gattung wie die Reportage-Fotografie wenigstens in Ă€sthetischer Hinsicht immer stĂ€rkeren Auftrieb. Schon lange begnĂŒgen sich die besten journalistischen Fotografen nicht mehr mit der puren Schilderung dessen, was vermeintlich ist – ihnen gelingt nicht selten sogar der Schritt zur Verdichtung und zu Analyse der VerhĂ€ltnisse. âŠ
Die Reportage wandelt sich zum Bildessay. Selten sah ich so viele bezwingende Bildfolgen wie jĂŒngst bei der Jurysitzung zum UNICEF-Foto des Jahres 2013. Ein Dutzend wĂ€re preiswĂŒrdig gewesen, und allemal anspruchsvoller, visuell origineller, thematisch erhellender und obendrein bewegender und zugleich reflektierter als das Meiste, was gegenwĂ€rtig in den Galerien und Museen als Kunstfotografie zu sehen ist.â
Lieber Klaus Honnef, besuchen Sie das Folkwang-Museum in Essen und ĂŒberzeugen Sie sich: nur wenige beherrschen die Reportage-Fotografie so kunstvoll wie die 1975 in New York geborene Taryn Simon. Ihr gewaltiges Arbeitspensum bewĂ€ltigt die Tochter eines ehemaligen Angestellten im AuĂenministerium und leidenschaftlichen Hobbyfotografen und mit einem kleinen Team: ihrer Schwester und einem Assistenten. International bekannt wurde die Guggenheim-Stipendiatin 2002 mit âThe Innocentsâ fĂŒr die New York Times. Die Kunstwelt stuft Taryn Simon mittlerweile zu den zehn bedeutendsten Fotografinnen unserer Zeit ein.
Taryn Simon ĂŒber ihre Motivation: âIch glaube, ich bin Ă€ngstlicher als die meisten Menschen. Es ist die Angst, die mich antreibt. Ich gehe dauernd an meine eigenen Grenzen, zwinge mich dazu die Dinge zu machen, obwohl ich dabei nicht glĂŒcklich bin.â – âIch habe eine Liste mit all den geheimen, kaum bekannten PlĂ€tzen gemacht, die ich persönlich sehen will.â (Quelle: Wikipedia)
Serie THE INNOCENTS: Larry Mayes – Ort der Festnahme, Royal Inn, Gary, Indiana. Die Polizei fand Mayes in diesem Raum zwischen Matratzen versteckt. Er verbĂŒĂte 18,5 Jahre einer 80jĂ€hrigen Haftstrafe wegen Vergewaltigung, Raub und unrechtmĂ€Ăigem Verhalten. (fotografiert in der Ausstellung von Hartmut S. BĂŒhler)
Serie THE INNOCENTS: Larry Youngblood – Ort des Alibis, Tucson, Arizona. Mit Alice Laitner, seiner Freundin und Zeugin vor Gericht. Er verbĂŒĂte acht Jahre einer 10,5jĂ€hrigen Haftstrafe wegen sexueller Nötigung, EntfĂŒhrung und Kindesmissbrauchs (fotografiert in der Ausstellung von Hartmut S. BĂŒhler)
Sexual Assault Kitts, Lagerraum des Materials fĂŒr DNA-Analyse; Bode Technology Group, Inc., Springfield, Virginia (fotografiert in der Ausstellung von Hartmut S. BĂŒhler)
There Are Some Who Are in Darkness â Works from the Olbricht Collection (KunstmĂ€zen, Chemiker, Arzt und ehemaliger Aufsichtsratsvorsitzender der Wella AG), selected by the Artist Taryn Simon
â bis 02. MĂ€rz 2014 im Museum Folkwang, Essen
Es gibt zur Ausstellung keinen Katalog.
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Zitat von Bertold Brecht:
âDie Lage wird dadurch so kompliziert, dass weniger denn je eine einfache “Wiedergabe der RealitĂ€t” etwas ĂŒber die RealitĂ€t aussagt. Eine Photographie der Krupp-Werke oder der AEG ergibt beinahe nichts ĂŒber diese Institute. Die eigentliche RealitĂ€t ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsĂ€chlich “etwas aufzubauen”, etwas “KĂŒnstliches”, etwas “Gestelltes”.”
aus: Der Dreigroschenprozess (1931).
in: Gesammelte Werke in 20 BĂ€nden. Frankfurt a. M. 1967, Bd. 18, S. 161
Walther Benjamin bezieht sich darauf in seiner âKleine Geschichte der Fotografieâ (1931) in: Kemp, Wolfgang (Hg.): Theorie der Fotografie II, 1912-1945, MĂŒnchen 1979, Band 2, S. 211
Links ĂŒber und zur KĂŒnstlerin:
www.art-magazin.de
www.ted.com
www.spiegel.de (Ausstellungsbesprechung von Georg Dietz)
www.spiegel.de (Georg Dietz ĂŒber Taryn Simon als SchlĂŒsselperson 2011)
sz-magazin.sueddeutsche.de (Interview mit Taryn Simon von Jan Heidtmann) sz-magazin.sueddeutsche.de (Taryn Simon ĂŒber ihr Projekt “Birds of the West Indies”
tarynsimon.com/works
Text und Ausstellungsfotos: Hartmut S. BĂŒhler
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