Wie Sie wissen, ist Schalke 04 diese Saison aus der 1. Bundesliga abgestiegen. Warum ich das erzÀhle?
Schalke 04 passierte nicht nur, wenn das Flutlicht aufs Stadion gerichtet war und man 90 Minuten lang auf spĂ€rlich bewachte Rechtecke zulief. Schalke 04 passierte immer, stĂ€ndig, beim GesprĂ€ch mit dem Nachbarn ĂŒber den vergangenen Samstag, beim Betrachten einer Fanweste mit Erinnerungen an vergangene Reisen, Schalke 04 ist in Gelsenkirchen ein wichtiger Arbeitgeber und auch infrastruktureller Bezugspunkt. Schalke ist Kulturproduzent und zu dieser Kultur tragen nicht nur die Mannschaft bei, sondern auch die Menschen, deren Bezeichnung als Fans ihre Funktion nur stark verkĂŒrzt wiedergeben kann. Das ist die eine ErzĂ€hlung.
Die andere ErzÀhlung feiert das Ruhrgebiet als Metropolenregion, als Ort, wo man sich den Staub von den KrÀgen gewischt und Zechen erfolgreich umgewidmet hat, als Ort, der den Versprechen von Innovation, Technologie und den kurzen Wegen des Stadtmarketings entspricht.
Das Flutlicht versetzen
Was ich an dem Pixelprojekt Ruhrgebiet so wichtig finde, ist, dass hier seit Jahren, fast Jahrzehnten fotografische Serien gesammelt werden, die ebenfalls das Flutlicht versetzen. Nicht vom abgetragenen Kumpelmythos, nicht von der groĂen ErzĂ€hlung der Kulturmetropole, sondern von anderen Dingen erzĂ€hlen, Dinge, auf die nie oder selten Scheinwerfer gerichtet waren, deren fame begrenzt ist.
Was dieses Jahr gezeigt wird
Dieses Jahr ist es das Erwachsen- und das Ălterwerden, das gezeigt wird, Arbeits- und Verwaltungswelten oder HĂ€user des Glaubens und der sichtbaren Ausstellung bescheidenen Wohlstands. Die Serien legen nahe, dass auch Garagen Architekturen sind, die das Stadtbild prĂ€gen können, ebenso wie die punktuellen Palmen der InnenstĂ€dte, die das Schicksal der BĂŒropflanze im öffentlichen Raum weiterfĂŒhren. Aber auch, dass das Ruhrgebiet das verstauchte GefĂŒhl der Ordnungsliebe kennt.

Foto: Matthias Gödde, Motiv aus der Serie “Omnitopia”.
Sehr viel WeggemÀhtes und Weggefegtes erahnt man in den Fotos von Matthias Gödde und Jonathan Zipfel, Trampoline werden nur noch mit mannshohen Sicherheitsnetzen verkauft. Jedem Vorgarten seinen KÀfig, in dem Kinder mutig auf der Stelle springen. Die Fossil gewordene Architektur von Friedhöfen ist auch dabei, aber ebenso Theater- und Protestfotografie, sowie Serien von den 1970ern bis in die 1990er Jahre.

Foto: Jonathan Zipfel, aus der Serie “Habitus interruptus”.
Das Album unserer Tage
Damit sie ihnen nicht abhandenkommt, binden sich manche Menschen durch Dinge an die Welt: Oft waren Fotografien diese Dinge, ausgedruckt und eingeklebt in das reversible Feld, das sich Album nennt und oft genug irreversibel blieb. Das Album unserer Tage ist das Internet, ein Internet, das in seinen sozialen RÀumen kaum begrenzt ist. Man muss nicht wirklich entscheiden, welche Fotografie man in die Internetseiten klebt, die Seiten hören nicht auf, einzig die Festplatte oder der Handyspeicher limitiert die Dinge, durch die dir die Welt nicht abhandenkommt soll. Was hast du vor einem Jahr gemacht, fragt dich dein Telefon, mit dem du schon lange nicht mehr gesprochen hast und du guckst auf ein Foto, das du vor einem Jahr aufgenommen hast, gehst auf ein Reel von vor drei Jahren und siehst die Band, die sich lÀngst getrennt hat, aber deren Konzert du damals gut fandest.
Facebook, Twitter und Instagram sind chronologisch sortiert, es gibt zumindest bei ersterem JahresrĂŒckblicke, visuell-verbale Wiedervorlagen von Dingen, die man nur aufgenommen hatte, um ihre FlĂŒchtigkeit zu betonen. Eine FlĂŒchtigkeit, die mit dem Wissen arbeitet, wiederholbar, diachron erfahrbar und im Kontrast rezipierbar zu sein. Huch, denkst du dir, damals war die Band noch zusammen, sowas, wie die Zeit vergeht, heute kann ich ja mit ihrer Musik nicht mehr allzu viel anfangen.
Du postest also auch, um dich selbst zu prĂŒfen, um dich zur Wiedervorlage, deiner eigenen Vergangenheit verhalten zu können, die dich auf einmal und völlig kontingent fragt, wie du mit dieser Erinnerung umzugehen gedenkst. Passt sie noch zu mir oder nicht?
Das Pixelprojekt Ruhrgebiet hat diesen Gedanken auf eine Region erweitert. Man muss die Wunden offenlassen: Das Ruhrgebiet ist ein Gebiet, das unterwegs bleibt zu einer fertigen ErzÀhlung. Das durch Fotografie nicht festgehalten, nur durchquert werden kann wie Landschaften beim Zugfahren.
FĂŒr die meisten Menschen ist das eine emotionale Frage. Keine von Logos und Ethos, sondern eine von Pathos. Jede Region hat ihre eigene Version solcher ortsgebundenen Eigenheiten. Es braucht Orte, an denen man das gleiche Recht auf Lokalgeschichte haben kann wie jeder andere auch. Egal, ob man diesen Ort zum ersten oder zum hunderttausendsten Mal sieht. Das Pixelprojekt Ruhrgebiet ist ein solcher Ort.
Dem Ruhrgebiet in fotografierten Schichten begegnen
Es ist ein Bilderpool, ein Internetort, an dem man das Ruhrgebiet in fotografierten Schichten begegnet. Chronologische Schichten, klar, aber nicht nur. Schichten kann man viel. Kleidung zum Beispiel, Zeichen, Plakate, Menschen, innen und auĂen. In diesem Jahr schichtet sich grau auf der Schalker Meile und in den Trikots von Wattenscheid 09. FuĂball im Ruhrgebiet, das war schon immer die Ăberdehnung eines manisch-depressiven GemĂŒtszustandes. SchlĂŒssel, Tische und Töpfe werden geschichtet in der Landesstelle von Hendrik Lietmann, in einer Schichtung, die die gleiche Ordnung verspricht wie die behördlich geschlossenen Waagerechten der Rollladen und Schreibtischschubladen.

Foto: Hendrik Lietmann, aus der Serie “Landestelle”
Es sind Serien, die im Zeigen erinnern. Nicht notwendigerweise mich, ich war nie da, sondern sich. Man erinnert das Nichterlebte als Erlebtes, man denkt an ungelebte Wirklichkeiten in alternativen RĂ€umen. Wobei es auch mehr trĂ€umen als denken sein kann. Denn die Erinnerung ist oft genug ein Traum, den wir fĂŒr wahr halten.
Die Serien sind nicht auf Halden aus Nostalgie errichtet, nicht in Fotografie gegossene Seufzer einer besseren Vergangenheit, sie sind visuelle Analyse und unprÀtentiöse Dokumentation eines lokalen GedÀchtnisses, das mehr vergisst als erinnert. Das Problem an der Vergangenheit ist, dass sie immer vergangener wird, je mehr Gegenwart hinzukommt.
Dieses Problem sieht auch der Fototheoretiker Bernd Stiegler.
“Das Internet ist dem Erinnern abtrĂ€glich”
JĂŒngst hat er in seinem Aufsatz FotograïŹe und Vergessen1 die These aufgestellt, dass âdas Internetâ dem Erinnern eher abtrĂ€glich ist. Er berichtet in Zahlen: â2008 wurden 19 Millionen Fotos tĂ€glich im Netz hochgeladen, 2012 363 Millionen und 2014 bereits 1,8 Milliardenâ und formuliert thesenhaft: âDas digitale Archiv ist vor allem dafĂŒr da, einen materialen Speicher bereitzustellen, der das bewahrt, was bereits vergessen ist.â2
FĂŒr Stiegler ist Fotografieren nicht nur eine Praxis des Erinnerns, sondern auch und vor allem unter digitalen Vorzeichen eine Praxis des Vergessens: âGerade weil Bilder in so groĂer Zahl vorhanden sind, spielt die Erinnerung und das Gedenken, das sie strukturieren und ihnen eine Gestalt geben könnte, eine nachgeordnete Rolle, da sie gar nicht dafĂŒr da sind, erinnert zu werden. Es reicht, dass sie vorhanden sind.â3 Zumal die Gegenwart, so eine weitere These von Stiegler, immer kĂŒrzer wird: Die Gegenwart hat lĂ€ngst nicht mehr die Dauer einer Generation, â[a]us Jahrzehnten werden Jahre, aus Jahren Monate, aus Monaten Tage. Der GedĂ€chtniszeitraum in den social media wird immer kĂŒrzer je mehr Bilder gepostet werden.â4 Daran könnte man auch die Frage anknĂŒpfen: Was passiert, wenn sich zwar nichts mehr versendet und alles findbar ist, aber der Pfad nicht mehr da ist?

Foto: Cornelia Wimmer, aus der Serie “GrĂ€vingholz”.
Stiegler endet mit seiner Version eines digitalen Ablasshandels: Die Vielzahl an Digitalisaten von Archivalien, die das Internet derzeit auf seinen Breitbandschultern zu tragen hat, ist in Wirklichkeit nur eine BuĂhandlung. Er schreibt: â[Man] investiert [in] die Archivierung der Vergangenheit, wenn man die Gegenwart verraten und die jĂŒngere Geschichte vergessen hat.â âDas digitale Vergessen in der Gegenwart scheint sich durch ein erinnerndes Entdecken und systematisches Archivieren der Vergangenheit sozial freikaufen zu wollen.â5 Dieser von Stiegler skizzierte Internetfriedhof ist sicher eine mögliche Gegenwart. Es muss aber nicht die Einzige sein.
Je unsicherer die Lage, um so mehr visuelle Zeichen werden benötigt
Ich war nie ein Fan der vielbeschworenen Bilderflut, weil ich ihre ĂberschwemmungsschĂ€den einfach nicht sehen konnte.
Selbst wenn wir heute den kommunikativen Akt der Fotos nicht mehr niedriger priorisieren als Bildinhalt oder -Ă€sthetik, wer kommt dadurch zu Schaden? Der Bildtheoretiker W.J.T. Mitchell hat vor kurzem in einem virtuellen Vortrag einen Satz gesagt, den ich vom Bildschirm mitgeschrieben habe: âImages need a human host.â
Man kann es auch psychologisch betrachten: Je unsicherer die Lage, desto mehr Zeichen werden benötigt. Denn die Reichweite der Zeichen lĂ€sst in schwierigen Zeiten nach. Wenn es uns hilft, anhand visueller Zeichen der Kommunikation visuelle Zeichen der Kunst zu öffnen, kann ich keine Opfer erkennen. Fotografie hat sich als Medium immer schon ĂŒber ihre Funktionen definiert. Die Funktion Kommunikation verdrĂ€ngt weder die Funktion Kunst noch die Funktion Erinnerung, im Gegenteil: Sie informieren und bereichern sich gegenseitig.

Foto: Inna Schneider, aus der Serie “Kumpel Riviera”.
Anregungen
Und wenn ich Peter Liedtke folge, der mich explizit bat, meine âAnregungenâ an dieser Stelle einzubringen, wĂ€ren sie dementsprechend:
Belebt das Archiv, helft ihm aus dem Internet raus und schafft ihm im Internet einen attraktiven Ort, an dem es hĂ€ufig besucht werden will. Sprecht ĂŒber das Archiv, verknĂŒpft das Archiv, reichert es an und kontextualisiert es. Ladet SchĂŒler*innen, Student*innen, KĂŒnstler*innen oder Forscher*innen ein, mit dem Archiv zu arbeiten, organisiert Ăffentlichkeiten, um ĂŒber die Serien zu sprechen, findet Medienpartner*innen, um sie zu zeigen. Finden wir Wege, Wiedervorlagen zu schaffen, neue BegegnungsrĂ€ume mit der Vergangenheit zu bauen und ein Flutlicht in die Flut, ins Internet zu setzen.
Text: Dr. Anja SchĂŒrmann
Dr. Anja SchĂŒrmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Sie hielt diese Rede als EinfĂŒhrung zur Ausstellungseröffnung am 27. Juli 2021 im Wissenschaftspark Gelsenkirchen.
Der Text ist im Katalog zur Ausstellung enthalten.
Ausstellung der Neuaufnahmen Pixelprojekt Ruhrgebiet 2021
noch bis 18. September 2021
Wissenschaftspark Gelsenkirchen
1) Bernd Stiegler: Fotografie und Erinnerung. FotograïŹen sind ein Schatz der Erinnerung und der Geschichte, in: ReVue, Link: https://www.re-vue.org/beitrag/theorie-bernd-stiegler-fotografie-und-vergessen [26.04.2021].
2) Ebd.
3) Ebd.
4) Ebd.
5) Beide Zitate: Ebd.
Einblicke – Neuaufnahmen Pixelprojekt Ruhrgebiet 2021

Foto: Ursula Kaufmann, aus der Serie “Pact Zollverein”.

Foto: Wolfgang Fröhling, aus der Serie “Schalker Meile”.

Demonstration von mehreren 10.000 Bergarbeitern gegen die Kohlepolitik der Bundesregierung am 26. September 1991 in Duisburg. Foto: Rainer F. Steussloff, aus der Serie “Bergarbeiterprotest in Duisburg, 1991”.