Im 24. April berichtete die SĂĽddeutsche Zeitung auf ihrer Seite 9 unter der Ăśberschrift „Schöne neue Welt“, dass die niederländische Marketing-Firma des Ingenieurs Bas Landorp Freiwillige sucht, die ab 2022 auf den Mars fliegen wollen – es gibt nur One-Way-Tickets zu gewinnen. Ăśber 10.000 Bewerbungen sind angeblich bereits eingetroffen. Was hat diese Meldung ĂĽber ein Projekt, das das Zeug zum beispiellosen Event in der Geschichte der Reality Shows hat, mit dem Fotografen Jens Sundheim zu tun, dem zurzeit im Dortmunder Museum fĂĽr Kunst und Kulturgeschichte eine Einzelausstellung gewidmet ist?
Der Dortmunder Jens Sundheim, Jahrgang 1970, interessiert sich für Astronomie, die Raumfahrt und die Wissenschaften. So heißt denn auch das Motto der Fotoschau „Vom Zustand der Menschen und dem Leben auf dem Mars“. Es stammt von Dr. Brigitte Buberl, Kunsthistorikerin und Leiterin der Kunstsammlungen des Museums für Kunst und Kulturgeschichte Dortmund. Außerdem hat Dortmund einen Fußballverein, der die „Galaktischen“ von Real Madrid mehrmals entzaubert und „geerdet“ hat.
Dr. Buberl setzt sich für Künstler in und um Dortmund ein. Der Titel „Vom Zustand der Menschen und dem Leben auf dem Mars“ rührt von einer älteren Arbeit Sundheims her. Ich fand seine Bilder von Summerlin „so surreal, dass sie auch vom Leben auf dem Mars erzählen könnten, sollte dieser einmal besiedelt sein“, so Dr. Buberl. „Die Menschen, die in diesen Bildern gezeigt werden, wirken wie Androiden. Zum Beispiel die drei Mädchen: Sie sind freundlich und lebendig, das kleine in der Mitte verhält sich hingegen so starr, als wäre sie die aufgefundene Außerirdische aus der sie  umgebenden Plastikwelt.“
Am Rande von Las Vegas in der WĂĽste Nevadas entsteht die vollständig am ReiĂźbrett entworfene Siedlung: Summerlin. Errichtet auf dem Gelände, auf dem einst der Filmproduzent Howard Hughes seine Vision eines Luft- und Raumfahrtzentrums verwirklichen wollte, entsteht nun eine andere Vision: die ideale Stadt. Wer in Summerlin wohnen will, muss sich zahlreichen Regeln unterwerfen. Grillen im Garten ist verboten, im Vorgarten sind nur bestimmte Pflanzen erlaubt. Ein privater Wachdienst behält alles im Blick. Ruhe und Ordnung und Sauberkeit – “a community for the 21st century”, wie die Website der Planer verheiĂźt.
200 Familien ziehen jeden Monat nach Summerlin, suchen die Beständigkeit dicker Mauern, um dahinter zu leben. Viele fliehen vor Lärm, Krawall, Kriminalität und anderen Belästigungen der Metropolen. Alle suchen ein besseres Leben. 90.000 Menschen leben bereits dort, 200.000 sollen es werden. Summerlin gilt als die erfolgreichste nach einem Masterplan entwickelte Stadt der USA. Derart durchkonstruierte Siedlungen breiten sich auf allen Kontinenten aus. Summerlin – ein Vorbild der Vorstadtsiedlung des 21. Jahrhunderts?
Jens Sundheim erforscht in seiner Arbeit Lebenswelten, tatsächliche und mögliche: Wie lebt der Mensch, wie möchte er leben, wonach sucht er und was strebt er an. Wünsche, Idealvorstellungen und Utopien auf der einen Seite, erfassbare Wirklichkeiten auf der anderen.
Die Entwicklung städtischer Räume spielt in Jens Sundheims Arbeit eine Rolle, ebenso wie Aspekte technologischen Fortschritts und wissenschaftlicher Forschung – siehe die Fotoserie „Realms of Science“, 2013. Zeigt Fotografie doch stets etwas Vergangenes und Dagewesenes, so schauen Sundheims Bildwelten immer auch in die Zukunft. Seine fotografischen Arbeiten sind vielfältig und vielschichtig. Sie entstehen großenteils mit der Kamera in der Hand – andere, wie das Projekt „Der Reisende“ nutzen und hinterfragen das Internet als Bildbereitstellungs- und -verbreitungsmaschine.
Jens Sundheims Projekt „Der Reisende“ beschäftigt sich mit der Allgegenwart von Webcams im privaten und öffentlichen Raum. Der Reisende (dargestellt von Jens Sundheim) ist eine Kunstfigur, die Orte aufsucht, auf die Webcams gerichtet sind. Da von dort beständig Bilder ins Internet und von dort in jeden Winkel der Welt übertragen werden, wird das Gezeigte wichtig, erlangt geradezu globale Bedeutung. Die Route des Reisenden wird allein von Webcams bestimmt, sucht er doch als Tourist beständig nach den sehenswerten und bedeutenden Plätzen dieser Welt.
An der Webcam angekommen, tritt der Reisende ins Bildfeld der Kamera. Der Reisende wird von ihr erfasst und setzt nun seine Reise virtuell fort: In Bits zerlegt, bewegt er sich durch Zeit und Raum, ist – bei Eingabe der richtigen Adresse – auf jedem vernetzten Rechner rund um den Globus nahezu gleichzeitig sichtbar.
Webcams produzieren, abhängig von technischen Möglichkeiten und dem Willen ihrer Betreiber, ständig neue Bilder. Jede Stunde, jede Minute, einmal am Tag oder in Echtzeit. Bevor das flüchtige Bild von neuen Daten überschrieben wird, wird es abgepeichert, als „Webfotografie“ konserviert. So werden die erreichten Stationen durch die Webcam-Bilder als Art moderne, digitale Postkarte dokumentiert.
Gründe, Webcams auf die Welt zu richten, sind so vielfältig wie die dabei entstehenden Bilder. Sie reichen von Information (über die Verkehrsdichte beispielsweise) bis Überwachung, vom Bewerben touristisch sehenswerter Plätze bis hin zu privaten Cams, aufgestellt aus Technikbegeisterung und freizeitlichem Vergnügen, die oft nicht mehr als den Hinterhof ihres Besitzers zeigen. Auch hier gilt: ist der Hinterhof erst einmal im Netz, wird er und damit auch der Betreiber der Webcam Teil einer ganzheitlichen virtuellen Welt: des World Wide Web.
Das Projekt „Der Reisende“ wurde 2001 in Las Vegas, Nevada gestartet. Bislang besuchte der Reisende über 400 Webcams in 15 Ländern. Nach und nach soll das Projekt den Reisenden auf alle Kontinente führen, eine weltumspannende Reise entstehen. Neben vielen anderen Orten führte die Arbeit am Projekt den Reisenden zur legendären Kaffeemaschine, auf die die erste Webcam der Welt zeigte, in den Kontrollraum der Europäischen Raumfahrtbehörde ESA und in die Zelle einer New Yorker Polizeiwache – denn 2002 wurde Sundheim, vor einer Webcam stehend verhaftet: „wegen seltsamen Betragens“.
Der Fotograf Bernhard Reuss in Wiesbaden nimmt das Bild auf, speichert die übertragenen Daten, bevor das momentane Bild vom nächsten überschrieben wird. Schließlich werden ausgewählte Webfotografien vom Bildschirm gelöst, ausbelichtet und als großformatige Fotografien präsentiert.
Jens Sundheim:
Vom Zustand der Menschen und dem Leben auf dem Mars
Bis 2. Juni im Museum fĂĽr Kunst und Kulturgeschichte , Dortmund
Text und Portrait: Hartmut S. BĂĽhler
Ausstellungsfotos: Jens Sundheim