Nach einer abenteuerlichen Reise zur Paris Photo, die mir dank der unglücklichen Zugverbindung eine ungewollte Nacht in Frankfurt beschert, komme ich erst am nächsten Morgen in Paris an. Nun gut, denke ich mir, als ich endlich in jenem lichtdurchfluteten Gebäude auf der rechten Seite der Seine stehe und mir überlege, wie ich mich strategisch durch das Labyrinth der Galerien bewegen kann.
Sofort heißen mich die großen, bunten Portraitaufnahmen in der Stevenson Gallery im Eingangsbereich willkommen, signalisieren mir aber zugleich, meinen Startpunkt doch woanders zu suchen. Vielleicht schreien sie auch zu sehr danach, gesehen zu werden.
Entdeckergeist und Durchhaltevermögen
Das fulminante Angebot an Galerien stellt sich nicht als erstes Hindernis dar, es ist viel mehr die Masse an Menschen, die sich in einer Bildmesse natürlich nur auf einer Seite platzieren können, um ein Werk zu betrachten. In dieser Hinsicht ist die Fotografie als ein oftmals zweidimensionales Objekt sehr unpraktisch. Mein Entdeckergeist lässt sich dennoch nicht so schnell bremsen und so übe ich mein Durchhaltevermögen.
Franzosen mögen es traditionell. Man Ray, Henri Cartier-Bresson, Sarah Moon und Erwin Blumenfeld flimmern immer wieder auf an den üppig bespielten Wänden der Galerien. Auch die New Yorker Gagosian Gallery setzt auf Klassiker wie William Eggleston und an der gegenüberliegenden Wand meint man zu glauben, ein Gursky oder Ruff dürften nicht fehlen.
Meine vielen Déja-vu-Erlebnisse verbreiten die leise Ahnung, dass die Grenzen der Fotografie hier weniger ausgetestet werden wollen. In diesem Zusammenhang erhält die Ausstellung des Museum Folkwang umso mehr Präsenz. Zur diesjährigen Paris Photo wurde das Museum als besonderer Gast eingeladen. Mit dem Titel “Witness of their Time” (deutsch: Zeugen ihrer Zeit) präsentiert Folkwang seine Neuerwerbungen, eine Auswahl der Ernst Scheidegger Sammlung und das Projekt “Kairo. Offene Stadt”.
Fotoreportage und neue Perspektiven durch Digitalisierung
In der Zusammenstellung begegnen sich zwei unterschiedliche Kulturen des Fotojournalismus. Die eine erzählt von den “Goldenen” Zeiten der Reportage: Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, Werner Bischof und andere fangen Momente während der Kriege zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ein. Der andere Teil zeigt Bilder der ägyptischen Revolution, wo Fotografie als Medium durch das Fortschreiten der Zeit und durch die Digitalisierung neue Perspektiven und Handlungsweisen erzeugt. Zwei Konflikte werden gegenüber gestellt. Auf den ersten Blick erweckt der Vergleich einen sehr kontrastreichen Eindruck, fokussiert zugleich aber die gemeinsame Bedeutung von Engagement und der Dokumentation jener Ereignisse.
Verspieltes Gesamtbild und kuratorische Praxis
Ein anderer Gast der Paris Photo, die Deichtorhallen Hamburg mit der Sammlung Falckenberg, legt seinen Schwerpunkt auf das Spektrum moderner Gegenwartskunst, die ironisch und zynisch gesellschaftliche Phänomene kommentiert. Phil Collins’ mit Graffiti versehene Fotografie von Britney Spears hängt neben John Baldessaris Bildcollagen. Ein schrilles, buntes und verspieltes Gesamtbild, welches aber meinen Besuch erleichternd ausklingen lässt. Und warum? Weil hier kuratorische Praxis betrieben wurde, die mich durch den Raum lenkt und führt.
Dokumentarisches und Inszeniertes in Fotobüchern
Neben all den hängenden Exponaten, finden die diesjährigen Sieger des Fotobuchpreises ebenfalls einen Ort der Präsentation und bekannte Verlage wie Steidl, Mack, Hantje Cantz und Kehrer kreisen den Stand der Preisträger ein. Die Qualität der nominierten Bücher ist vielfältig. Auffällig ist der narrative Aspekt. Dokumentarisches vermischt sich mit Inszeniertem, gefundenes Bildmaterial aus dem Internet stößt auf private Fotografien, Vergangenheit trifft auf Gegenwart. So werden in einer sensiblen Bildsprache Gefühlswelten wie in “Speaking of Scars” von Theresa Eng erzählt oder in “Nine nameless Mountains” von Maanatai, einer finnischen Fotografengruppe, das Phänomen des Berges, als Metapher für das Unbekannte und als ein Ort unterschiedlicher Erfahrungen und Wahrnehmungen, abgetastet.
Eine andere Untersuchung führt Taryn Simon mit ihrem Buch “Birds of the West Indies” durch. In Anlehnung an den Ornithologen James Bond, der 1936 eine Studie über die Vogelwelt in der Karibik veröffentlicht hat, durchleuchtet die Fotografin den Mythos des James Bond-Films und all seinen Requisiten: Waffen, Fahrzeuge und Frauen.
Die Vielfalt sorgsam gestalteter Fotobücher erreicht allerdings nochmal eine weitere Dimension außerhalb des Grand Palais. An der Ecole nationale supérieure des beaux-arts am linken Ufer der Seine stellen Independent Verlage unter anderem aus Frankreich, Italien, Niederlande und England aus, aber auch vereinzelte Hochschulen gehören zu den Teilnehmern. In kleinen Auflagen produziert, findet man Zines, die Kurzgeschichten mit Fotografien kombinieren; informativ, berührend oder humorvoll und oftmals nicht nur auf visueller, sondern auch auf haptischer Ebene beeindruckend, sind sie eine nähere Betrachtung wert.
Fazit: mein Durchhaltevermögen wird am Ende mit einigen Fundstücken belohnt und auch meine Begleitung erwirbt ein filigranes Künstlerbuch, dessen Macher anwesend ist. Nach kurzem Kennenlernen und Signieren hängt er noch eine Performance mit dran: einige Eingriffe mit Cutter, Tesafilm und Pfalzbeil später, hält die neue Besitzerin ihr personalisiertes Buch in den Händen. Ob sie sich über die unerwartete Veränderung ihres ausgeguckten Fundstücks freut, bleibt offen.
Paris Photo im Grand Palais (14. bis 17. November 2013)
Text und Fotos: Susanne Mierzwiak, November 2013
Susanne Mierzwiak studiert an der Folkwang Universität der Künste und ist seit Oktober Mitarbeiterin im Büro bild.sprachen.