Im Fotokaraoke von Dieter Zinn geht es um die Wahrnehmungen der inneren und äußeren Bilder, die unser Leben bestimmen. Es geht um Selbstbilder, Fremdbilder, Sinnbilder, Vorbilder: Wir sehen, fühlen und denken in den Sprachen der Bilder. Die Bilder im Kopf prägen das Selbstbild eines Menschen. Ihre Summe bildet ab, was in uns gleich bleibt: die Identität. In kurzen, konzentrierten Überlegungen, verbunden mit persönlichen Assoziationen, wird der Blick im Fotokaraoke auf alltägliche, fiktive und verborgene Bildwelten gerichtet.
Kunst hat keine Funktion. Gerade deswegen brauchen wir sie für eine undogmatische Erkenntnis der Welt, als geistige Nahrungsergänzung für die kulturelle Identität mit der eigenen Geschichte. Wegen ihrer Freiheit des Geistes, der Toleranz und dem Mut zur Grenzüberschreitung wirkt Kunst auch als Spiegelbild gesellschaftlicher Behauptungen. Wer sich auf Kunst einlässt, muss wissen, dass er ein Gebiet betritt, das auf unsicherem Boden angelegt ist, wobei gerade die Unsicherheit Möglichkeiten und Chancen bietet, eigene Denkstrukturen neu zu kalibrieren. Weil wir durch Kunst die Welt nicht nur “mit eigenen Augen” sehen, sondern wir sehen so viele Welten, wie es Künstler gibt. Fotokunst erweitert das Sehen, wenn sie berührt und nicht versucht, sich selbst zu erklären.
Durch den direkten Bezug fotografischer Bilder zur Wirklichkeit verhält sich Fotokunst zur Gebrauchsfotografie wie das Heilige zum Profanen. Um als Kunst erkannt und gewürdigt zu werden, erhält sie ihre Wertigkeit im Kontext von Galerien, Museen, Büchern und bildgebenden Medien. Bildstrategien und deren Präsentationsformen tun ein Übriges, um künstlerische Glaubwürdigkeit zu vermitteln. Fotokunst hat, wie jede andere Kunstform auch, kein Wozu. Ausgenommen die Art von Fotokunst, die marktgerechte Erwartungen erfüllen will und sich als Karrierekunst an der Popkultur, also dem, was populär ist, orientiert. Doch was populär ist, erscheint selten originell und schafft sich selbst nach einer gewissen Zeit, durch vulgäre Anmaßungen, wieder ab.
Fotokunst, für die erst ein Jargon erlernt werden muss, um sie für «wahr» zu nehmen, basiert häufig auf dogmatischen Vorgaben der Künstler. Diese müssen hinterfragt werden: Worum geht es in der Fotoarbeit? Wofür steht der Fotokünstler? Mit welcher Haltung wurden die Fotografien erstellt und präsentiert? Antworten darauf machen deutlich, ob es um Erotik oder Geilheit der Oberflächen geht, ob Bilder die Orte bestimmen oder Orte die Bilder. Künstlerisch angelegte Fotoarbeiten werden erst in Präsentationen nachvollziehbar: durch serielle Farbgebung, Form, Licht, Technik, Zeit, Sujet, Machart, Bildauffassung.
Mit diesen Werkzeugen entstehen Bildsprachen, die verdeutlicht werden durch gegenseitige Bezugnahme der Fotografien im Kontext der Präsentation. Hier gilt, wie in jeder anderen Form kultureller Beziehungen: Alles, was wir kommunizieren, kann durch Sprachen gesagt werden, ob Bild, Tanz, Musik, Literatur, Information. Die Liebe, der Glaube, die Hoffnung, der Tod, alles wird durch Sprachen sichtbar und verstehbar.
In diesen nicht überschaubaren Variationen der Sprachen besteht die Gefahr von Behauptungen, die davon ausgehen, dass Betrachter Anspruch, Inhalt und Darstellungsform der Fotokünstler als logisch akzeptieren. Mit einer Logik, die auf Wissen und Erfahrungen basiert, deren sprachliche und symbolische Vereinbarungen jede Form der Bildkommunikation erst ermöglichen. “Jedes Bild ist auch ein logisches”, schreibt Ludwig Wittgenstein und ergänzt dazu, dass wir von einer unlogischen Welt nicht sagen können, wie sie aussieht. Das gilt auch für die Kunst, selbst dann, wenn sie nur ein Gefühl darstellen will. Kurzum, wir können alles ausdrücken in den Sprachen des Körpers, des Geistes, der Bilder und Blicke.
Zunehmende Verfügbarkeiten digitaler Bildmittel, deren tägliche Nutzung, erleichtern den massenhaften Gebrauch fotografischer Bilder und behindern die Einschätzung der als Kunst präsentierten Fotografien. Deren Sehweisen zeigen sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, im Gegensatz zu vielen Darstellungen der bildenden Kunst als gesellschaftskonform. Sehnsucht, Wahnsinn, Subversivität werden konzeptionell veredelt und verbleiben in den Nischen kleiner Galerien. Fotokunst als Museumskunst wird zum Event, übergroße Bildformate beeindrucken auch die Betrachter, die sich im Alltag in den Bildern ihrer Displays wiedererkennen. Innovative Bildsprachen in der Fotokunst werden, von erstklassigen Ausnahmen abgesehen, durch Ingenieure geleistet, die dem Markt und der Kunst neue Bildtechnik zur Verfügung stellen.
Künstler, die mit fotografischen Medien ihre Themen umsetzen, versuchen ihre Anliegen durch komplexe Sehweisen in ihre Wirklichkeiten zu transformieren, die erst durch erkennbare Bildsprachen nachvollziehbar werden. Deren thematisches Konzept besteht auf den Ebenen des eingeschränkten Blicks und der technischen Nachbearbeitung. Innerhalb der Präsentationsform können sich dann die «realen» Fiktionen der Fotokünstler mit den Wirklichkeiten der Betrachter synchronisieren. Vorausgesetzt, diese haben genügend Bilderfahrungen, um ihnen zu folgen.
Dieter Zinns Buch “Fotokaraoke” ist erschienen im Mitteldeutschen Verlag, Halle. ruhr.speak veröffentlicht Auszüge in lockerer, aber alphabetischer, Reihenfolge.