Beim Besuch der Ausstellung denke ich sofort an die Sozialdramen des britischen Kinoregisseurs Ken Loach (sein Vater arbeitete im Kohlebergwerk). Und wie Parallelmontagen im Film sehe ich links Fotos vom Aufruhrgebiet Ruhrgebiet, rechts Bilder des britischen Bergarbeiterstreiks. Immer mit den Augen des Fotografen Michael Kerstgens aus Oberhausen. Die Fotos wirken surreal, sie sind aus einer anderen Zeit. Sie stammen aus der analogen Ăra und sind auf Film gebannt.

Blick in die Ausstellung “Aufruhrgebiet â ArbeitskĂ€mpfe (Labour Disputs): Fotografien von Michael Kerstgens im LVR-Industriemuseum Zinkfabrik Altenberg, Oberhausen”. Foto: Hartmut BĂŒhler
Der britische Bergarbeiterstreik
Im MĂ€rz 1984 begann der britische Bergarbeiterstreik, der fast genau ein Jahr dauern sollte. Auf dem Höhepunkt des Ausstands beschloss Michael Kerstgens (geboren in Llanelli, South Wales), damals noch Student der Fotografie, den Widerstand zu fotografieren. Misstrauen und Angst gegenĂŒber der oft streikfeindlichen Presse verhinderten, dass der engagierte Fotografiestudent in Wales streikende Arbeiter und ihre AktivitĂ€ten fotografieren durfte. Deshalb beschloss Kerstgens ins Zentrum des Streiks nach Yorkshire zu fahren. Dort bekam er Kontakt zu den Aktivisten Marsha und Stuart “Spud” Marshall, der ihm die Möglichkeit gab, das Streikgeschehen und die Folgen jenseits der Demonstrationen mit der Kamera direkt zu begleiten.

Ein Vertreter der Gewerkschaft NUM zahlt geringe BetrĂ€ge an streikende Bergleute aus, deren Familien in Notlage geraten sind. Cynheidre Collerie, Llanelli, South Wales 1984. Ausstellungsfoto: Hartmut BĂŒhler
Aus dem âVorwortâ zu Michael Kerstgens’ COAL NOT DOLE: â1984… auf der Suche nach mir selbst und nach meinen Themen hatte ich gerade den Fotografen und Filmemacher Robert Frank fĂŒr mich entdeckt. So kam ich auf die Idee, nach SĂŒd Wales zu gehen, wo ich die ersten Jahre meiner Kindheit verbracht hatte. Einen Kontakt hatte ich auch noch. Mein Patenonkel war dort Direktor von Thyssen-Schachtbau Great Britain Ltd. ⊠Ich hatte keine Ahnung.â
Denn Kerstgens Onkel stand auf Seiten der Arbeitgeber und somit auf der falschen. âZu den streikenden Bergarbeitern fand ich ebenfalls kaum Kontakt ⊠war ich ihnen als Deutscher suspekt. … Es war frustrierend. Ich beschloss, Wales zu verlassen und es in Yorkshire zu versuchen. ⊠Es war Boxing-Day, der erste Weihnachtsfeiertag ⊠im GewerkschaftsbĂŒro der National Union of Mineworkers NUM … öffnete sich die TĂŒr und Spud Marshall stand vor mir, klein, gedrungen und tĂ€towiert. ‘Call me Spud’, sagte er.
Spud Marshall lud Kerstgens ein, bei ihm und seiner Familie zu wohnen. Die kleine Zechensiedlung in der Rimington Road in Wombwell lag vis-Ă -vis der bestreikten Zeche Darfield Main, dem Zentrum des erbitterten Arbeitskampfes. Nachdem Kerstgens nach geraumer Zeit und zahlreichen bierseligen Abenden in die Gemeinschaft aufgenommen wurde, bekam er Zugang auch zum engen Kreis um den legendĂ€ren ArbeiterfĂŒhrer Arthur Scargill. Und Spuds Ehefrau Marsha erwies sich als begnadete Rednerin, die regelmĂ€Ăig mit der politischen Aktivistin und Schauspielerin Vanessa Redgrave telefonierte.
Kerstgens: âDie Bergleute waren die Speerspitze des Streiks, aber die Frauen der WAPC waren das Herz der Streikbewegung. ⊠An RadikalitĂ€t kaum zu ĂŒberbieten. ⊠stieĂ ich auf ein Traditionsbewusstsein, auch ein radikal proletarisches Bewusstsein, wie ich es noch nie vorher erlebt hatte. Nicht zu vergleichen mit der sozialdemokratischen Folklore, die â wie ich schon damals empfand â die Bergarbeiterkultur im Ruhrgebiet mehr und mehr ersetzte.â

Coal not Dole. Ausstellungsfoto: Hartmut BĂŒhler
Nach einem Jahr endete der Streik mit einer vollstÀndigen Niederlage: jeder Bergarbeiter hatte sich mit durchschnittlich 10.000 Pfund verschuldet. Viele hungerten, waren völlig demoralisiert. 70.000 Menschen verloren ihren Arbeitsplatz, ganze Gemeinden verschwanden von der Landkarte. Von den 170 Zechen zu Streikbeginn gab es 2014 nur noch ganze drei.
Kerstgens: âWelche individuellen Schicksale hinter diesen Zahlen stecken, kann man sich kaum vorstellen. Die Niederlage war verheerend. Und die Folgen sind bis heute zu spĂŒren.â Beim Abschied erhielt Kerstgens von Spud und Marsha eine Grubenlampe, einen Pokal der Fire Fighting Competition 1983 und ein Bierglas mit der Widmung: âTo Michael â Hands across the water, Hands across the seaâ.
Arbeitskampf in Rheinhausen
âDie zweite groĂe Serie der Fotografien zeigt Bilder des Kampfes um das Stahlwerk Rheinhausen. Am 26. November 1987 wurde bekannt, dass die Krupp-Stahl AG die WerksschlieĂung des Stahlwerks Rheinhausen plante. Es begann ein langer Arbeitskampf mit zahlreichen zum Teil spektakulĂ€ren Aktionen um den Erhalt des 1897 gegrĂŒndeten Stahl- und HĂŒttenwerks.

42000 Menschen besuchten das SolidaritĂ€tskonzert AufRuhr am 20. Februar 1988, live ĂŒbertragen im Fernsehen. Viele KĂŒnstler kamen, von Hannes Wader bis Herbert Grönemeyer, von den Toten Hosen bis zur Zeltinger Band. Ausstellungsfoto: Hartmut BĂŒhler
Kerstgens Bilder zeigen den starken Zusammenhalt unterschiedlicher Akteure und die Solidarisierung verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen. Sie legen Zeugnis davon ab, dass es hier nicht allein um ArbeitsplĂ€tze ging, sondern auch um eine menschenwĂŒrdige BewĂ€ltigung des bevorstehenden Strukturwandels und die Zukunft einer ganzen Region. Die Sorge, die Anspannung, den Ernst der Lage, all das sehen wir in den Gesichtern der Aktivisten von damals.
Anders als ein paar Jahre vorher in England war der Kampf nicht umsonst. Es wurde ein zwar schmerzhafter aber tragbarer Kompromiss erzielt, der vollstĂ€ndige Verlust von Hoffnung und Zukunft konnte fĂŒr die meisten Betroffenen abgewendet werden (aus dem Pressetext von âAufruhrgebietâ, Peperoni-Books. Darin enthalten sind auch Artikel ĂŒber die Geschichte der Arbeiterbewegung und die Entwicklung der Stahlindustrie im Ruhrgebiet von Christoph Fasel, Theo Steegmann und Stefan Berger).â

Krupp-Hoesch, Hagen 1993. Ausstellungsfoto: Hartmut BĂŒhler
⊠Es hat viel mit gelebter SolidaritĂ€t, dem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit, dem GefĂŒhl einer mit der Industrialisierung verbundenen regionalen IdentitĂ€t und dem GefĂŒhl einer industriellen und zunehmend postindustriellen Schicksalsgemeinschaft zu tun… (Prof. Dr. Stefan Berger, Direktor des Instituts fuÌr soziale Bewegungen, Vorsitzender des Vorstandes der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets; Bochum)
Ausstellungsinfos
Bis zum 18. Dezember 2016 im LVR-Industriemuseum, Galerie der Zinkfabrik Altenberg, HansastraĂe 20, Oberhausen: Bilder des Kampfes der Bergarbeiter in England in den 1980er Jahren und Fotografien vom Kampf der Arbeiter um den Erhalt des HĂŒttenwerks in Rheinhausen.
Ăffnungszeiten: Di â Fr 10 â 17 Uhr, Sa â So 11 â 18 Uhr
Eintritt: Im Ticket zur Dauerausstellung “Schwerindustrie” enthalten (5 âŹ, erm. 4 âŹ, Kinder und Jugendliche frei)
Text und Ausstellungsfotos: Hartmut BĂŒhler, Fotograf (DGPh), DĂŒsseldorf
Originalfotos: Michael Kerstgens