Im Fotokaraoke von Dieter Zinn geht es um die Wahrnehmungen der inneren und äußeren Bilder, die unser Leben bestimmen. Es geht um Selbstbilder, Fremdbilder, Sinnbilder, Vorbilder: Wir sehen, fühlen und denken in den Sprachen der Bilder. Die Bilder im Kopf prägen das Selbstbild eines Menschen. Ihre Summe bildet ab, was in uns gleich bleibt: die Identität. In kurzen, konzentrierten Überlegungen, verbunden mit persönlichen Assoziationen, wird der Blick im Fotokaraoke auf alltägliche, fiktive und verborgene Bildwelten gerichtet.
Der Mythos, dass fotografische Bilder objektive Realitäten repräsentieren, stellte Erwartungen an die Fotografie, denen sie seit ihrer Einführung nicht gerecht werden konnte. Trotzdem bestehen auch in Zeiten digitaler Bildveränderungen durch einen Mausklick mehr oder weniger definierte Ansprüche an die Glaubwürdigkeit fotografischer Abbildungen. Menschliche Gemeinschaft basiert auf Glauben, und wir wollen auch den Bildern glauben, um nicht die Orientierung zu verlieren. Die Zauberformel der Kommunikation heißt Transparenz, um den ambivalenten Glauben an fotografische Bilder durch Methoden und Kontexte zu stärken.
Bildgebende Medien vermitteln ihren Nutzern ein Gefühl inhaltlicher Glaubwürdigkeit, wenn eindeutige Bildsprachen und deren Transparenz in einem fixierten Kontext erkennbar sind. Bildbetrachter, die sich über den informativen Kontext eines Themas hinaus assoziativ verbinden, verknüpfen das mit Gefühlen der Orientierung. Ohne Orientierung reduzieren sich Verweildauer und Assoziationen in Bildern, Klängen, Texten, und ohne dieses Verweilen begrenzt Kommunikation ihre Wirksamkeit, weil sie die originären Sinne für menschliches Handeln vernachlässigt.
Denn unser gefühltes Bild über die Welt und den Kosmos wurde und wird durch Bilder und Fotografien lückenlos konditioniert und mit täglichen Updates erweitert. Grandiose Erfahrungen des anschaulichen Sehens und Denkens seit der Einführung der Fotografie vor fast 200 Jahren unterscheiden uns deutlich von den Menschen, die vor der Erfindung der Fotografie gelebt haben. Eine Welt ohne fotografische Abbilder ist genauso wenig vorstellbar, wie das Ende des Universums.
Menschen westlich geprägter Kulturen glauben diese Welt über Bilder zu kennen, und glauben das, was sie sich als Bild vorstellen, doch unser Bilderwissen kommt über fragmentarische Eindrücke nicht hinaus. Mit dem Ergebnis, Bildwirklichkeiten zu konstruieren, die Kenntnisse über eine Welt simulieren, deren Aneignungen überwiegend aus dem Konsum vorgefertigter Bildwelten resultieren. Dabei entsteht Glaubwürdigkeit in fotografischen Bildern nicht allein durch das, was sie zeigen, sondern gerade dadurch, ob die täglich konsumierten Bilder mit den bereits im Kopf vorhandenen Bildern übereinstimmen. Kontinuierliche Fokuswechsel, ähnlich dem Zappen durch TV-Programme, simulieren Zusammenhänge zwischen Wissen und anschaulichem Denken.
Fotografische Bilder bleiben in ihrer Allgegenwärtigkeit so lange Fragmente, bis wir sie logisch nachvollziehen und mit unseren Gefühlen verschmelzen. Genau an dieser Schnittstelle entsteht Glaubwürdigkeit. Der kontinuierlich changierende Charakter einer Fotografie im Verlauf der Zeit und Geschichte, sei es durch Veränderungen der Mode, Moral, Ethik, wirkt sich parallel dazu auf die Glaubwürdigkeit technischer Bilder aus. Die ist ohnehin kein Dogma, sondern eine die Verantwortung übernehmende Überlegung, wie sie in jedem Thema immer wieder neu definiert werden muss. Mit Ansprüchen an Wahrhaftigkeit, die erst durch die kontinuierliche Überprüfung und Abgleichung gegenwärtiger Lebensformen entsteht.
“Bilder werden als Fenster zur Wirklichkeit benutzt. Da sich unser Begriff für Wirklichkeit stets ändert, wandelt sich auch unser Anspruch an Bilder. Es hängt wohl mit diesem Anspruch zusammen, dass wir an Bilder glauben wollen, doch müssen sie diesen Glauben auch rechtfertigen”, schreibt der Bildtheoretiker Hans Belting. Die Kombination von Wirklichkeit und Glauben verweist zuerst auf Jahrtausende religiöser Traditionen, in denen bis heute die Verehrung und Anbetung heiliger Bilder oder Symbole zu den Ritualen gemeinschaftlich praktizierter Gläubigkeit gehören. Der Spruch “Glauben heißt nicht wissen” gehört in die Mottenkiste der Sprache, weil sich Glauben und Wissen ergänzen statt ausschließen. Ja mehr noch, wir sind heute eher bereit, im Sinne einer Glaubwürdigkeit zu glauben, wenn wir wissen, dass wir wissen.
Glaubwürdigkeit hat weniger mit Wahrheiten zu tun, als mit der subjektiven Einschätzung des Wahrheitsgrades einer Information, Meinung oder Behauptung. Im Resultat sind es nicht die Fakten selbst, die unser Denken beschäftigen, sondern deren Interpretationen, die wiederum vom Grad der Glaubwürdigkeit bestimmt werden. Vielleicht geht es in der Glaubwürdigkeit der Bilder auch nur um unser Selbstbild, weil wir nur das glauben wollen, was wir auch glauben können und bereits in uns abgebildet haben.
Dieter Zinns Buch “Fotokaraoke” ist erschienen im Mitteldeutschen Verlag, Halle. ruhr.speak veröffentlicht Auszüge in lockerer, aber alphabetischer, Reihenfolge.