Als internationaler Stadtteil bietet Gelsenkirchen-Ückendorf verschiedenen kulturellen Gemeinschaften ein Zuhause. „hier sind wir“ möchte mit dem Medium der Fotografie die Menschen, die diesen Ort prägen, ins Bild bringen und fremde und unbekannte Milieus von innen zeigen.
Die Fragen: „Wie lebt mein ausländischer Nachbar? Was macht er anders als ich?“ sind Leitfragen, die Nähe und in Folge Vertrauen schaffen sollen. Vor diesem Hintergrund hat bild.sprachen die Fotografen Christoph Kniel, Fatih Kurceren, Karin Müller, Anne Müchler & Nico Schmitz, Philipp Schmidt und Nikita Teryoshin beauftragt, ganz individuelle Geschichten festzuhalten. Max Schulz hat die Fotografen für uns begleitet.
Wir wollten wissen, wie es den Fotografen dabei ergeht, an diesen Geschichten zu arbeiten. Wie sie aufgenommen werden, bei dem was sie aufnehmen. Die Fotografinnen und Fotografen haben die Aufgabe durchaus sehr unterschiedlich interpretiert. Neben den Fotografien „hier sind wir“ schafft Max Schulz mit seinen Interviews und Beobachtungen eine ganz eigene Position „hier sind wir“.
Die Fotografieausstellung „hier sind wir“ wird am 21. Dezember 2013 um 17 Uhr in der Stadtteilgalerie bild.sprachen, Bergmannstraße 37, eröffnet und ist bis zum 26.4.2014 zu sehen.
Karin reiste von Berlin aus an. Der Weg zu diesen Bildern war aber etwas länger. Von Luzern, ihrem Geburtsort, verschlug sie das Fotografiestudium nach Prag, sie lebte mit ihrem Mann in den USA und jetzt eben, zusammen mit den beiden Kindern, in Berlin. Sie weiß, was es bedeutet, Erinnerungen an vergangene Lebensräume zu haben.
Auch für sie manifestieren sich solche Vergangenheiten in Dingen. Sammelstücke, die eng verbunden sind mit Erlebnissen aus der Heimat, den Orten, die man verlässt, den Freunden, die zurückbleiben.
In Ückendorf fand sie neue Freunde mit ähnlichen Biografien. Es kostete ein wenig Überwindung, Fremde anzusprechen und ihr Projekt zu erklären. Diese Leute zu bitten, ihr die Dinge zu zeigen, die sie aus der Heimat, aus einer vergangenen Zeit, mit nach Ückendorf gebracht haben. Hier werden diese Sachen nun gepflegt, mit Erinnerungen versehen. Ausgeschmückt mit den Träumen von gestern. Verziert wie die bleichen Knochen katholischer Heiliger.
Karin hat all diese Träume erzählt bekommen. Und sie an zarten Fäden befestigt. Freischwebend hängen die Gegenstände, losgelöst vom schweren Begriff einer Wirklichkeit, die sich immer wieder neu aufzwingt, den Traum zu verdrängen. Karins Fokus liegt scharf auf der Stofflichkeit des Objekts, welches selbst zum Traum wird. Und ihr Foto davon wird eine neue Erinnerung, die sich über die Zeiten trägt. Dafür ist sie gern von Berlin nach Ückendorf gereist, sehr gern. Denn diese Fotografien werden nicht schmerzen, wie es Erinnerungen gern mal tun.
Mit dem Arbeitstitel »Ausländische Unternehmer in Ückendorf« war Philipp gar nicht einverstanden. Allein das »ausländisch« ist ihm eine zu deutsche Betrachtung. Was ist an einem in Bochum geborenen Mann mit griechischen Eltern, der einen Döner-Imbiss in Ückendorf betreibt, ausländisch? Mehr Ruhrgebiet geht nicht. Und das Ruhrgebiet hat es dem in Hamburg lebenden Fotografen angetan. Das Projekt, welches bild.sprachen vor der eigenen Haustür stattfinden lässt, hat ihn glücklich gemacht. Die unbeschwerte Betrachtung, das Sujet der Möglichkeiten, ein Jahrmarkt an Geschichten.
In Hamburg, wo er als Assistent einen Werbefotografen auf weltweite Tourneen begleitet, ist ihm solches Arbeiten unmöglich. Hier muss man mehr auf das eigene Image achten als auf die Images, die man produziert.
Den ursprünglichen Wunsch, Theologie zu studieren, tauschte Philipp gegen die Fotografie. Damit ist er den Geschichten der Menschen viel näher. Das ist es, was ihn an der Kamera hält. Er muss dabei nicht aus sich herauskommen. Von vornherein ist er ein offenes und freundliches Gegenüber, was seiner Arbeit als Porträtfotograf sehr entgegenkommt.
Lustige Geschichten und lustige Fotos gibt es zu wenig, da hätte er gern mehr. Es scheint ihm, als ob Bedeutungsschwere in der deutschen Fotografie ein philosophischer Standard geworden ist, ohne den die Bilder nicht als »wichtig« gelten können.
Während des Gesprächs auf Skype musste einer von uns immer lachen. Trotz meines seriösen Versuchs, ihn, der doch mal Pastor werden wollte, dazu zu bringen, sich über die moralische Verpflichtung des Fotografen auszulassen. Oder darüber, dass der Fotograf sich genau darüber hinwegzusetzen hat.
Das klappte gar nicht und so haben wir weitergelacht. Und Geschichten erzählt. Über Schatzsucher in Mazedonien und die Farbigkeit einer Gletscherspalte. Über Currywürste und das usselige Licht im Ruhrgebiet. Dort, wo er glücklich war. Das nimmt er sehr ernst.
Fatih steht im Schaufensterlicht der Galerie auf dem Bürgersteig. Um den Hals klemmt ein Kopfhörer größerer Bauart. Fast schaut er aus wie einer der Jungs, die er hier in Ückendorf fotografieren will. Junge Ausländer, Russen, Albaner, Roma aus Italien, Araber. Kaum Türken, wie Fatih einer ist. Er ist vor 13 Jahren aus Istanbul nach Deutschland gezogen, der Sprache wegen. Und lebt jetzt mit seiner deutschen Frau in Oberhausen.
Zwei Stunden treiben wir über den Bürgersteig zwischen den Möglichkeiten des Ückendorfer Nachtlebens. Fatih fotografiert sie locker, die jungen Männer der Bürgersteige. Es gab schon Schwierigkeiten, manche wollten bezahlt werden, andere hatten die unmöglichsten Ängste. Durch seine Aufmerksamkeit und die der Kamera waren sie eher verschreckt. Das kennen sie nicht.
Fotografie ist leicht. Sagt er. Und er widerspricht sich sofort. Musik, Tanz, die Malerei und auch das Schreiben sind ihm gleich wichtig. Fotografieren ist eine anstrengende Art sich auszudrücken. Sagt er. Und es ist schwer, gleichzeitig mit den Jungs auf der Straße zu reden und sie dabei zu fotografieren. Das eine unterbricht das andere beständig. Das Knipsen mit dem Apparätchen, diese winzigen Ausschnitte, die man sich vor das Gesicht hält. Er hat lange Arme, lange Hände und schöne Finger, mit denen er mir die Pantomime des Fotografierens vorspielt. Dennoch strengt ihn das Fotografieren an. Es ist so wenig unmittelbar.
Er mag die Dunkelheit dieses Abends. Das zerrissene Licht im übergestülpten Schwarz der Nacht. Der Falschfarbenmix. Den Jungen steht das gut. Es sieht nach Geheimnissen aus. Etwas Hollywood. Dennoch will Fatih nicht an diesem Projekt weiterarbeiten. Es ist ihm zu klein, wie er sagt. Er mag die großen historischen Momente. Der Völkermord in Armenien, das war sein Examensthema. Hier, in Ückendorf, scheint Geschichte für ihn beendet. Mit den Roma aus Italien, den Rumänen, Russen. Den Arabern aus der zweiten Generation. 13 Jahre sind noch zu kurz für wirkliche Geschichte.
Am Bahnhof steigt Nikita zu mir in den Wagen. Er schleppt schweres Gepäck. Kamerastativ, Lampenstativ, Blitz und Softbox. Nach hinten beult der Rucksack auf seinem Rücken weit aus, nach vorn streckt sich ein Leninbart. »Der Bart ist nicht politisch«, sagt er. »Zumindest kulturpolitisch«, erwidere ich.
Der mächtige Bart steht im Kontrast zu den milden Blicken, mit denen er alles sorgfältig umfängt. Seine Antworten lassen sich Zeit, einzelne Worte oder halbe Sätze scheinen sich auf eine kleinere Reise begeben zu haben, ehe sie ausformuliert ihren Weg zu meinem Ohr finden.
Mit seinen 26 Jahren war er schon viel unterwegs. Vor 13 Jahren von St. Petersburg nach Dortmund gezogen, zwischendurch ein Jahr in Berlin und immer wieder zurück nach Russland, seiner Vergangenheit nachforschend. Fotografie scheint das entsprechende Medium zu sein, mit dem er versucht, den verblassenden Erinnerungen gerecht zu werden. Es ist eine spezielle Reiselyrik, die er verfasst.
Anfänglich folgte er den verblassenden Erlebnissen seiner Kindheit in Russland, zu sehen in der Arbeit »St. Petersburg nach 11«. Jetzt sind die zu bewahrenden Erinnerungen sein wichtigster Fokus. In den beständigen Reisen seines Lebens, denn zuhause ist er auch in Dortmund nicht wirklich, ist die Kamera seine Kühlschranktür, an der die magnetischen Mitbringsel haften.
Auf einer Reise passieren zu viele Dinge nebeneinander. Die Bilder kombinieren gleich mehrfache Reisen. Kreuzfahrten aus den Geschichten der Porträtierten, den russischen Emigranten und ihrer eingemachten Lebensmittel. Bewahrte, konservierte Heimat. Eine Heimat in Weckgläsern, ein Lebensmittel. Mehr konservierte Lebensart als Nahrung. Ein Vorgeschmack auf Erinnerungen.
So wie Nikita arbeitet, formuliert er Fotografie vor wie ein Rezept. Bewahrt, konserviert Dinge, an die man sich vielleicht auch nicht erinnern will. Und fordert Toleranz ein. Gibt ein Bilderspiel vor, welches sorgfältig von ihm abgewogen wird. Welches sich in den Fotos bewahrt.
Meine erste Reise nach Russland hatte ich mit Nikita. Auf einem Hinterhof in Ückendorf. Wir hörten russische Schlager aus den Lautsprechern des Imbiss, hatten warmen Tee und kauten sehr leckere Tschebureki und auch Piroschki. Das waren zwei Stunden. Seine Reise wird noch sehr viel länger andauern.
Fotografien sind für Anne und Nico Kraftorte. In ihren Arbeiten, die sie international angehen, folgen sie den konkreten Spuren von Visionen. Das können Drehorte von Spielfilmen in Los Angeles sein oder die wirklichen Kulissen frei erfundener Geschehnisse.
Kraftorte, weil die Beweisfähigkeit des Fotos auch dann etwas belegt, wenn gar nichts zu beweisen ist oder auch gar nichts stattgefunden hat. Versuche ich mich an meine Schulzeit zu erinnern, dann hat die zwar stattgefunden, aber ohne mich selbst. Auf eine unbestimmbare Art war ich nicht anwesend und wurde auch nicht wahrgenommen.
Dass diese beiden die Schüler der Gesamtschule in Ückendorf auf sehr eindringliche Art wahrnehmen und sie zu echten Persönlichkeiten transformieren, ist eine wirklich kräftige Leistung. Denn je mehr sich das Bild im vagen Raum einer geöffneten Aussage befindet, desto mehr kontrollieren die beiden Fotografen sich selbst. Überprüfen die Haltung der Abgebildeten, suchen im System ihres Qualitätsmanagements nach Möglichkeiten der Kontrolle. Gern würden sie es fortführen und schauen, was denn in zwei Monaten, in zwei Jahren aus diesen Schülern geworden ist, welche Kraftmenschen sich dort entwickelt haben.
Herr Al-Jaanabi hat einen Traum (Foto: Christoph Kniel)
Christoph ist einer von hier. In Essen geboren, in Dortmund studiert, hatte ein Atelier in Mülheim, in Duisburg gewohnt und arbeitet jetzt von Essen aus.
In das Projekt ist er wirklich eingebettet. So warm und weich, dass er die allerbesten Träume hat. Bei der Ausschreibung fühlte er sich in seinen Wünschen um Fotografie durchweg treffend formuliert. Deckungsgleich ist die Haltung von »hier sind wir« mit seiner Idee eines neuen Fotoprojekts zum Thema Ruhrgebiet.
»Love Peace Hope« ist ein anderer Traum, den sich Christoph zusammen mit Ilja Mess erarbeitet hat. Junge Leute und ihre Hoffnungen, fotografiert in Russland, Marokko und der Türkei. Jetzt kann er »hier« den Träumen anderer folgen. Und traumhaft für ihn auch die Begegnung mit Herrn Al-Jaanabi, den er in Ückendorf fotografiert. Die selbstverständliche Freundlichkeit, die souveräne Offenheit dieses Mannes aus dem Irak, der in Ückendorf Nachbarschaftshilfe organisiert und ein Projekt nach dem anderen entwickelt, hat ihn sehr begeistert.
Herzlichkeit, mit der Herr Al-Jaanabi allen begegnet, ist Christoph wichtig. Diese hatte er im Besonderen in der Türkei bei Besuchen der Verwandtschaft seiner Lebensgefährtin erfahren. Diese Herzlichkeit durchwebt seine Tagträume von der Entwicklung des Ruhrgebiets. Und diese sind konzentriert auf die »hier« lebenden Menschen. Da ist er saustolz, dabei zu sein. Hellwach.
„hier sind wir“
21.12.2013 bis 26.4.2014
Öffnungszeiten:
samstags zwischen 14 Und 17 Uhr und nach telefonischer Vereinbarung.
Eröffnung der Ausstellung
Samstag, 21.12.2013 um 17 Uhr
Stadtteilgalerie bild.sprachen
Bergmannstraße 37
45886 Gelsenkirchen
Eintritt frei
www.bildsprachen.de/ausstellungen/hier-sind-wir/
Text und Portraitfotos: Max Schulz (Fotograf und Kritiker)