Das erste und aus meiner Sicht wichtigste Ereignis im September ist sicherlich die Bundestagswahl am 22. des Monats. Ich rufe ausdrücklich dazu auf wählen zu gehen. Auch wenn die Zukunft Deutschlands für die nächsten vier Jahre nicht nur von den regierenden Parteien abhängt, treffen sie doch immer wieder Richtungsentscheidungen, sei es im Sozialen, bei Kriegseinsätzen, bei nationaler und internationaler Solidarität (Flüchtlingsaufnahme, Griechenland & Co) und natürlich auch bei der Kultur.
Freie Kultur funktioniert nur noch über Selbstausbeutung, öffentliche Kultur agiert auf Sparflamme, Schulen, Sporthallen und Straßen weisen einen immensen Renovierungsstau auf, Kinder leben in Armut, Kranke erhalten Kassenmangelversorgung, Pflegebedürftige werden vernachlässigt, und kaum einer wird im Alter nur von seiner „Rente“ leben können; die Kreativen werden davon besonders betroffen sein.
Mit größeren Ausgaben könnten die Missstände beseitigt, Weichen für eine nachhaltige Zukunft gestellt und die Arbeitslosigkeit deutlich verringert werden. Aber das hieße Steuereinnahmen erhöhen. Klar, ich fluche bei jedem Steuerbescheid, aber öffentlicher Reichtum ist mir wichtiger als privater.
Zum Thema Steuern gibt es in Berlin eine sehr interessante Initiative, die sich sicherlich auch unabhängig von den Wahlen für das Ruhrgebiet anbietet: die „City tax for the Arts“. Auf Initiative der Heinrich Böll Stiftung wird seit 2012 in einem offenen Dialogprozess versucht, mindestens 50 Prozent der „Bettensteuer“ der freien Kulturszene zur Verfügung zu stellen. Aktuell wird darüber in den Berliner Haushaltsberatungen verhandelt. Das ist übertragbar!
Ob die Kulturszene von den nun festgesetzten Eckpunkten im Förderprogramm der europäischen Strukturpolitik profitieren kann, wird abzuwarten sein. Der eheste Ansatz könnte aus meiner Sicht bei den Themen „Vorbeugende Politik und frühe Hilfen“ und „Gute Arbeit und Integration“ liegen, denn Kultur wirkt integrierend, macht Missstände sichtbar und kann so bei der Vorbeugung helfen.
Vom Großen zurück zum Kleinen
Tipp Nr. 2 ist sicherlich die Ausstellungseröffnung „Tief im Westen – Das Ruhrgebiet von 1950-1969“ von Hans Rudolf Uthoff am 14. September im Wissenschaftspark Gelsenkirchen. Uthoff fotografierte das Ruhrgebiet in den Zeiten des Wirtschaftswunders bzw. des permanenten Wirtschafts- und Wohlstandswachstums. Auch wenn es heute schwer fällt , sich das vorzustellen, war das Ruhrgebiet bis in die 1970er Jahre eine der wohlhabendsten Regionen Deutschlands. Und von Jahr zu Jahr ging es weiter aufwärts. Uthoff hat dieses Lebensgefühl in einzigartigen Fotografien festgehalten. Die Ausstellungseröffnung beginnt um 19 Uhr und wird mit einem offenen Gespräch mit ihm gestaltet. Uthoff ist im August 86 Jahre alt geworden, ist immer noch „fit wie ein Turnschuh“ und kann endlose Anekdoten zu seinen Bildern und dem „alten“ Ruhrgebiet erzählen.
Tipp Nr. 3: Direkt im Anschluss nach Einbruch der Dunkelheit veranstalten wir dann unsere erste „Nuit de la Photographie“ mit Großprojektionen auf die Fassade des Wissenschaftspark Gelsenkirchen.
Melanie Kemner und ich berichten hier von den Vorbereitungen.
Tipp 4: Die Ausstellung „Territoires émergents – Orte des Lebens“ mit Arbeiten von Éric Giraudet de Boudemange (Paris), Freya Hattenberger (Köln), Maïté Pouleur (Paris) und Sarah Ritter (Besançon) im Kunsthaus Essen (noch bis 13.10.). Die vier Kunststipendiaten aus Deutschland und Frankreich lebten im Rahmen des Programms „Orte des Lebens“ ein Jahr lang im Nord-Pas de Calais und setzen sich in dieser Fotoausstellung, die bereits im Frühjahr in Lille zu sehen gewesen ist, individuell mit ihren Eindrücken und Einsichten auseinander. Die Region in Nordfrankreich weist mit seiner Industriegeschichte (Kohle, Metall, Textil) diverse Parallelen zum Ruhrgebiet auf. Zudem war Lille Kulturhauptstadt im Jahr 2004 und hat sich seitdem kulturell international weiter profiliert. Ich bin gespannt!
Tipp 5: Für alle, die Brigitte Kraemers Arbeit „Im guten Glauben“ noch nicht gesehen haben, besteht in der Zeit vom 15.9. bis 6.10. in der evangelischen Stadtkirche St. Georg in Lünen die Gelegenheit dazu. Die Eröffnung ist am 15.9. um 11 Uhr. Ich führe ein in die Ausstellung.
Tipp 6: Noch bis zum 27.10 ist die Ausstellung „Concrete Poetry“ des Fotoprojekts Emscher Zukunft im Kunstmuseum Bochum zu sehen. Viele der gezeigten Arbeiten sind ebenfalls Teil des Pixelprojekt_Ruhrgebiet. Das spricht für Qualität!
Tipp 7: Das Fotofestival Mannheim-Ludwigshafen-Heidelberg feiert vom 14.09. bis zum 10.11.2013 sein fünftes Jubiläum. Zu diesem besonderen Anlass wurde Andréa Holzherr als Kuratorin eingeladen. Sie entwickelt aus dem vielfältigen Bildkosmos der legendären Fotoagentur und Fotografen-Kooperative Magnum Photos ein übergreifendes Thema für die Ausstellungshäuser. Ich bin gespannt und lasse mir das Festival sicher nicht entgehen.
Tipp 8: Die Wiesbadener Fototage vom 7.9 bis 22.9.2013 finden alle zwei Jahre – im Rhythmus der ungeraden Jahre statt. Themenschwerpunkt der Fototage 2013 ist “Im Lauf der Zeit”. Das Phänomen Zeit ist wie kein anderes untrennbar mit der Fotografie verbunden – ja sogar mit Abstand das Wichtigste. Gezeigt werden fotografisch-künstlerische Positionen, die zum einen Prozesse einer Veränderung auf unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft und des Menschen reflektieren, zum anderen das Medium Fotografie selbst zum Thema haben.
Tipp 9: “The Family of Man“ wurde 1994 als Dauerausstellung in Clervaux (Luxemburg) installiert und konnte im Juli dieses Jahres nach dreijähriger Restaurationsdauer wiedereröffnet werden. Die Fotoausstellung wurde ab 1951 von Edward Steichen für das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) zusammengestellt, wo sie ab dem 24. Januar 1955 zu sehen war. Aus über zwei Millionen Fotografien wählten Steichen und sein Mitarbeiter Wayne Miller zunächst zehntausend Aufnahmen aus. Schließlich gelangten 503 Aufnahmen von 273 Fotografen aus 68 Ländern in die Ausstellung. Seit 2003 zählt die Ausstellung zum Weltdokumentenerbe.
Zu guter Letzt noch einige Personalia:
Der Dr.-Erich-Salomon-Preis verliehen durch die DGPh geht an den Magnum Fotografen Paolo Pellegrin. Die Preisverleihung ist am 12. Oktober in Mannheim.
Neue Kuratorin am Kölner Museum Ludwig ist nun Miriam Halwani.
Neue Chefredakteurin bei Eikon ist jetzt Nela Eggenberger.
Zwei traurige Nachrichten: Robert Häusser, einer der führenden Vertreter der klassischen Moderne und Politiker Fotograf Jupp Darchinger verstarben im August.
Und last but not least: Das Pixelprojekt Ruhrgebiet wurde als eines der 100 besten Projekte im Bundeswettbewerb „Land der Ideen“ ausgewählt. Damit ist es als einziges Kunstprojekt in ganz NRW und als einziges Fotoprojekt bundesweit ausgewählt worden.
Peter Liedtke ist Projektleiter bild.sprachen und Initiator von Pixelprojekt_Ruhrgebiet. Er gibt für ruhr.speak einmal im Monat persönliche Tipps zur Fotowelt (an der Schnittstelle zur Urbanität) im Ruhrgebiet, aber auch anderswo.