Spannende lebens- und werkgeschichtliche Verknüpfungen gibt es in den Biografien der drei Fotografinnen Florence Henri (1893-1982), Lisette Model (1901-1983) und Diane Arbus (1923-1971): Henri unterrichtete Model, diese wiederum zählte Arbus zu ihren Schülerinnen; Henri und Arbus wurden in New York geboren, Model und Arbus starben in New York.
Die Ausstellung “Henri – Model – Arbus” im Kubus von “situation kunst” in Bochum schlägt mit einem rund 50 Fotografien umfassenden Ensemble einen Bogen von der konstruktivistisch beeinflussten Fotografie der 1920er Jahre über sozialdokumentarische Fotografien der Vorkriegszeit bis in das Umfeld der Street Photography der sogenannten New York School (aus dem Pressetext von “situation kunst”)
Ausstellungsfoto: Hartmut S. Bühler
Richtungsweisenden Begegnungen
Die drei Generationen angehörenden Fotografinnen eint die eindringliche Betrachtung der Vielschichtigkeit menschlicher Existenz. Darüber hinaus sind Florence Henri, Lisette Model und Diane Arbus auch lebens- und werkgeschichtlich miteinander verbunden. Trotz wechselnder und teils weit auseinanderliegender Lebens- und Schaffensmittelpunkte in Deutschland, Frankreich und den USA kommt es zu richtungsweisenden Begegnungen für ihre künstlerischen Entwicklungen.
In Paris unterrichtet Henri im Jahr 1937 Lisette Model und inspiriert sie besonders hinsichtlich der Entwicklung ihrer – trotz aller Unmittelbarkeit der Aufnahmen – stets wohl komponierten Bildordnungen. Model wiederum zählt in New York gegen Ende der 1950er Jahre Diane Arbus zu ihren Schülerinnen, die ihr vor allem in der Wahl ihres Sujets, den verschiedensten Ausprägungen menschlicher Erscheinungsweisen, nahe steht.
Der freie Umgang mit der Porträtfotografie bildet ungeachtet einer jeweils eigenständigen fotografischen Bildsprache einen weiteren Bezugspunkt zwischen den drei Künstlerinnen. In ihren Werken versammeln sie zeitgenössische Künstlerprominenz neben dekadent an der französischen Riviera urlaubenden Bürgern, Bettler und Obdachlose der Lower East Side neben Jazz-Sängern und Burlesque-Schauspielerinnen, Nudisten und New Yorker Passanten.
Florence Henri. Lore 1936
Eigenständiges Oeuvre zwischen Bauhaus und Dadaismus
Florence Henri begann ihr Berufsleben als Pianistin, nach dem Studium der Musik wandte sie sich der Malerei zu. In Berlin besuchte sie die Kunstakademie, in Paris lernte sie bei Fernand Léger, um dann 1927 an das Bauhaus in Dessau zu gehen. Hier war Josef Albers einer ihrer Lehrer. Bei László Moholy-Nagy studierte sie schließlich Fotografie und lernte durch ihn Effekte wie Mehrfachbelichtung und Fotomontage kennen. Henri nahm 1929 an der wegweisenden Ausstellung “Film und Foto” (FiFo) in Stuttgart teil, die Arbeiten der Neuen Fotografie vorstellte.
Im Anschluss an ihren Deutschlandaufenthalt schloss sie sich der Kunstszene in Paris an. Hier erhielt sie, unter anderem durch Begegnungen mit Man Ray, Germaine Krull und dem ungarischen Fotografen André Kertész, wichtige Impulse für ihre fotografische Arbeit. Sie entwickelte ein sehr eigenständiges Oeuvre, das sich zwischen Einflüssen Légers, des Bauhauses, aber auch des Dadaismus und des Surrealismus bewegte. Gleichzeitig arbeitete sie im Brotberuf als Werbefotografin.
Lisette Model. Französischer Glücksspieler, 1934
Durchbruch in der „Straßenfotografie“
Lisette Model studierte ab 1920 Harmonielehre und Kontrapunkt bei Arnold Schönberg. Nach dem Tod ihres Vaters verließ sie 1926 mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Olga Wien und pendelte zwischen Paris und Südfrankreich hin und her. In Paris setzte sie ihre Gesangsausbildung fort, wandte sich jedoch um 1933 abrupt von der Musik ab und widmete sich der Fotografie.
In Nizza lernte sie ihren späteren Ehemann, den Maler Evsa Model, kennen. In Nizza produzierte sie eine ironische Bilderserie über die Nobelurlauber, die 1935 mit einem sozialkritischen Kommentar in der Zeitschrift regards, einem Organ der Kommunistischen Partei veröffentlicht wurde. Damit gelang ihr der Durchbruch im Bereich der “Straßenfotografie”. 1937 war sie Schülerin bei Florence Henri.
1938 emigrierte sie mit ihrem Mann in die USA. Dort bekam sie Kontakt zu Persönlichkeiten wie Alexey Brodovitch , dem Art Director von Harper´s Bazaar und den Fotografen Ansel Adams und Berenice Abott. Model fotografierte in Hotels, Bars und Nachtlokalen der Lower East Side und Badende in Coney Island. Außerdem entstanden die formalistischen Arbeiten Schaufenster-Spiegelungen und Laufende Beine.
Um das FBI während der McCarthy-Ära von ihrer Bilderserie in regards abzulenken, aktualisierte sie ihre Fotoserie über die Promenade des Anglais auf 1937.
Ab 1957 unterrichtete sie Fotografie an der New Yorker New School for Social Research. Ihre bekanntesten Schüler waren Diane Arbus und Bruce Weber. Model starb 1983 in einem New Yorker Krankenhaus.
Diane Arbus. Burlesque-Darstellerin in ihrem Umkleideraum, 1963
Ausstellungsfoto: Hartmut S. Bühler
Grenzen zwischen Normalität und Ästhetik
Diane Arbus war eine US-amerikanische Fotografin und Fotojournalistin russisch-jüdischer Abstammung. Arbus wurde vornehmlich durch ihre Fotoreportagen für namhafte US-Magazine bekannt sowie für ihre teils einfühlsamen, teils schonungslosen Porträts von Exzentrikern und Rand- und Schattenfiguren der Gesellschaft, wie beispielsweise von Armen, Nudisten, Prostituierten, Transvestiten fand. In ihrem Werk stellte Arbus vorurteilsfrei die Grenzen von Normalität und Ästhetik der Gesellschaft in Frage, womit sie die künstlerische Fotografie um einen psychologischen Aspekt erweiterte.
1963 und 1966 wurden ihre freien Arbeiten durch Guggenheim-Stipendien unterstützt. 1967 wurden die Ergebnisse dieser Jahre zusammen mit Arbeiten von Lee Friedlander und Garry Winogrand in der Ausstellung New Documents im Museum of Modern Art der Öffentlichkeit präsentiert. “Jedes Bild funktioniert wie ein visueller Bumerang: Freaks und einsame Menschen ängstigen uns dadurch, dass wir sie ansehen, um dann auf uns selbst zu blicken.” (Sandra S. Phillips: The Question of Belief in “Diane Arbus – Revelations”.
Diane Arbus war die erste amerikanische Fotografin, deren Arbeit 1972 bei der Biennale in Venedig ausgestellt wurde, 1977 wurde sie auf der documenta 6 in Kassel gezeigt.
Biografie, Leben und Werk von Arbus sind von wesentlicher Bedeutung für die Fotohistorie:
Amerikas wohl bedeutendste Intellektuelle, Susan Sontag (1933 – 2004), wurde durch Arbus zur intensiven Auseinandersetzung mit der Fotografie angeregt. Dies gipfelte in Essays über die Fotografie, die in einer Zusammenfassung 1977 als Buch erschienen (“Über Fotografie”). Trotzdem blieb Arbus “für Sontag allerdings kaum mehr als eine Voyeuristin von der Upper West Side… das Werk der Künstlerin erschien ihr ethisch problematisch…”. (siehe Daniel Schreibers Biografie “Susan Sontag – Geist und Glamour”, S. 168, Aufbau-Verlag).
„Henri – Model – Arbus“
noch bis 20. April
situation kunst
Nevelstr. 29
c/o Schlosstr. 13
44795 Bochum
(im Parkgelände von Haus Weitmar)
Öffnungszeiten
Mi-Fr 14-18 Uhr
Sa, So + Feiertags 12-18 Uhr
Führungen nach Vereinbarung
Telefon +40 234 29 88 901
Telefax +49 234 29 88 902
E-Mail info@situation-kunst.de
Der Eintritt in die Ausstellung beträgt 3 €, ermäßigt 1 €
Der Eintritt in die Dauerausstellung ist frei
Zur Ausstellung gibt es eine Publikation (80 Seiten; 48 S/W-Abbildungen), die für sechs Euro im Kubus von Situation Kunst erhältlich ist.
Leihgeber: Museum Folkwang, Essen; Galerie Johannes Faber, Wien; Privatbestand, Deutschland, Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln; Ludwig Museum, Köln. Gefördert durch die Wüstenrot Stiftung und den Verein Situation Kunst – Haus Weitmar
Begleitend zur Ausstellung bietet das Kunstgeschichtliche Institut der Ruhr-Universität Bochum im Wintersemester 2013/2014 einen Lektürekurs und eine Übung vor Originalen zum Thema “Fotografinnen” an. Unter der Leitung von Jun.-Prof. Dr. Annette Urban werden Studierende eng in Konzeption, Aufbau und Ablauf der Ausstellung einbezogen.
Weiterführende Links:
http://de.wikipedia.org/wiki/Diane_Arbus
http://de.wikipedia.org/wiki/Fell_%E2%80%93_Eine_Liebesgeschichte
http://www.welt.de/print-welt/article664157/Die-Offenbarungen-der-Fotografie-Diane-Arbus.html
http://www.welt.de/print-welt/article683343/Die-Offenbarungen-der-Diane-Arbus.html
http://de.wikipedia.org/wiki/Florence_Henri
http://de.wikipedia.org/wiki/Lisette_Model
Text und Ausstellungsfotos: Hartmut S. Bühler
Florence Henri. Tullia Kaiser, um 1930
Lisette Model. Badende auf Coney Island, 1939 bis 1941