Koudelka. Industries
Vor der Corona-Pause lieĂ sich in Waltrop eine schöne kleine Ausstellungs-Eröffnung besuchen. Josef Koudelka hatte es sich nicht nehmen lassen, fĂŒr Koudelka. Industries persönlich ins Schiffshebewerk zu kommen. Lohnt sich ein Besuch der mittlerweile wiedereröffneten und bis zum 4. Oktober verlĂ€ngerten Ausstellung? HautpsĂ€chlich wegen der Enstehungsweise der Bilder und der Entwicklung ihrer Rezeption.

Josef Koudelka bei der Eröffnung in Waltrop
Zu sehen sind auf 2,80 Meter Breite abgezogene, in sehr schwere schwarze Rahmen gefasste, dicht gehĂ€ngte und ab Mitte der 1980er entstandene Panoramafotos von Industrielandschaften in Europa, vorwiegend aus Nordfrankreich und der Tschechischen Republik. Nicht immer geben die teilweise verwackelten oder unscharfen Negative Reproduktion in dieser GröĂe her, und nicht alle Bilder können mit dem erforderlichen Abstand betrachtet werden. Die kleinen Texttafeln nennen nur Land und Jahr der Aufnahme und könnten auch entfallen.
Koudelka zeigt hauptsĂ€chlich die fĂŒr Gewinnung, Transport, Umschlag und Lagerung von Rohstoffen, Halbzeugen und Reststoffen erforderliche industrielle FlĂ€chen: Tagebaue, Erzbetten, Schlackegruben. Im Panoramaformat wirken sie endlos groĂ. Manchmal reichlich old school: Dreieck, Dreieck, Kreis. In den besten Momenten aber groĂes Kino: Perspektiven wie die eines Kranfahrers aus seiner Kanzel, eines LKW-Fahrers aus seiner Kabine, oder wie der beilĂ€ufige Blick eines Mitarbeiters beim Gang zu seinem Arbeitsplatz. (Alternativ: wie ein sich heimlich ĂŒbers GelĂ€nde bewegender Eindringling oder gar Soldat, die meisten Fotos sind zu FuĂ entstanden.)
Was genau in den gezeigten Landschaften produziert wurde, erschlieĂt sich ohne weitere Kenntnisse kaum. Wozu die Landschaften selbst produziert wurden, schon: Hier wird produziert, was jeder von uns konsumiert, nicht nicht konsumieren kann, wer Teil der Gesellschaft sein will. Interessant an der Ausstellung ist, dass diese nicht unbedingt neue Erkenntnis weitgehend frei von modischen BedenklichkeitserklĂ€rungen prĂ€sentiert wird.
Es geht sogar noch weiter: Koudelka hat diese Fotos nach eigenem Bekunden nicht nur als Beobachter statt als AnklĂ€ger aufgenommen. Die meisten der gezeigten DĂŒnkirchen-Fotos entstanden sogar als doppelte Auftragsarbeit: fĂŒr das französische Landschafts-Inventarisierungsprojekt der DATAR, und fĂŒr die Betreiberfirma. Es sind Prestige-Aufnahmen fĂŒr Regards d’acier, dem Bildband zum 25-jĂ€hrigen JubliĂ€um von Sollac Atlantique, ursprĂŒnglich Usinor, heute ArcelorMittal, dem groĂen neuen HĂŒttenwerk an der AtlantikkĂŒste, Stolz der französischen Industrie. Einen gröĂeren Umschwung könnte die Bildpolitik von Unternehmen und die Wahrnehmung solcher Aufnahmen kaum hingelegt haben.

Blick in die Ausstellung wĂ€hrend der Eröffnung. Weitere Ausstellungsansichten in der parallelen Besprechung von Hartmut BĂŒhler hier auf Ruhrspeak.
Harry Gruyaert: Regards d’acier
FĂŒr die Abteilung Produktionsanlagen war bei Regards d’acier Harry Gruyaert zustĂ€ndig:
Weitere Fotos sind auf der Magnum-Website zu sehen.
Christopher Nolan: Dunkirk
Nennenswerte Installation: ArcelorMittal/Dillinger DĂŒnkirchen, 1963 von USINOR als Ersatz fĂŒr die InlandshĂŒtten im Norden und in Lothringen in Betrieb genommen, heute mit knappen 7 Millionen Tonnen JahreskapazitĂ€t das gröĂere der beiden verbliebenen integrierten HĂŒttenwerke in Frankreich. Vorgelagert der ebenfalls Anfang der 1960 zum Schutz des neuen Tiefseehafens dafĂŒr gebaute sieben Kilometer lange Digue du Braek…
… auf dem die Schauspieler in Dunkirk im Jahr 1940 sitzen. Die dahinter zu sehenden Anlagen befinden sich im linken Teil der Markierung.
Hinter Nolan in diesem Making-Of-Foto: Hochofen 4 mit seiner charakteristischen rechteckigen Silhouette, der leistungsstĂ€rkste Frankreichs, 1973 in Betrieb genommen und zuletzt 2016 ĂŒberholt. Christopher Nolan hat seinen groĂartigen Film Dunkirk, in dem er drei unterschiedlich lange Zeitlinien miteinander verwebt, analog auf 70-mm-Breitfilm aufgenommen, digitale Nachbearbeitung auf ein Minimum reduziert, bei Flugzeugen und Schiffen groĂen Wert auf Verwendung von Originalmaterial gelegt – und die viel spĂ€ter entstandenen HĂŒttenanlagen einfach ins Bild genommen und stimmig aussehen lassen.
Zum Vergleich Koudelkas Version…
… und die von Gabriele Basilico, die in einem DĂŒnkirchen-Streifzug natĂŒrlich nicht fehlen darf. FĂŒr die Mission DATAR deckte Basilico die französische AtlantikkĂŒste von DĂŒnkirchen bis Le Havre mit magischen Fotos ab. Bord de Mer erschien 2017 bei contrasto in stark erweiterter (und natĂŒrlich ausverkaufter) vierter Auflage. Klick = zoombare Version in der StĂ€del-Sammlung.
Auf diesem USINOR-Werksfoto: Die ersten beiden Hochöfen in DĂŒnkirchen. Direkt am Wasser, ĂŒber TransportbĂ€nder zu 100% mit Import-Erzen beschickt, reichlich Platz drumherum: ein riesiger Sprung von den auf die VerhĂŒttung regionaler Erzvorkommen ausgelegten Werken in Lothringen.
Zum Weiterlesen
Kataloge
Katalog Industries, erschienen 2017 bei Ăditions Xavier Barral zur Ausstellung in Bologna in Form eines Ringbuchs. ISBN 978-2-36511-137-9.
Besser zur Geltung kommen die Fotos in Koudelkas frĂŒheren Panorama-BĂŒchern Black Triangle (1994) und Reconnaissance Wales (1998). Dort sind sie fast 60 cm breit ĂŒber jeweils zwei Leporello-Seiten gedruckt. Allerdings sind sie auch nur noch antiquarisch zu weit dreistelligen Kursen erhĂ€ltich.
Bei Magnum
Alle Fotos des Buchs und der Ausstellung sowie eine Themenseite dazu.
Koudelkas DATAR-Fotos im Buch Datar – en Lorraine, dans le Nord et Ă Paris, 1987, und SOLLAC-Fotos im Buch Regards d’Acier, 1988.
Beim LWL
Pressemitteilung und Seite zur Sonderausstellung
Text und Ausstellungsansichten: Haiko Hebig
Titelbild: DĂŒnkirchen, Hafen in den 1970ern, Jacques MalĂ©zieux
Luftbild: Haiko Hebig auf Basis von Google Maps
Hochofen: Werksfoto Usinor
Dunkirk, Still: Warner Brothers
Dunkirk, Making of: Melinda Sue Gordon