Manchmal sieht man den Wald vor lauter BÀumen nicht, lautet ein altes Sprichwort. Damit verbunden ist die Aufforderung, einen Schritt aus seinem gewohnten Trott herauszugehen, um eine Aufgabe, ein Problem mit Distanz betrachten zu können. Als Ergebnis dieser distanzierten Betrachtung können Fragen entstehen, die einen verÀnderten Fokus ermöglichen.
Allein durch Fragen kann sich das Denken, statt auf ein Problem, direkt auf mögliche Lösungen konzentrieren. Wer beginnt, in Lösungen zu denken, entwickelt offene zielgerichtete Fragen fĂŒr zukĂŒnftiges Handeln und erweitert seine Möglichkeiten durch neue Optionen. KreativitĂ€t beginnt mit Fragen, die wichtiger sind, als deren Antworten. Der Philosoph Aristoteles sah in der Frage eine offene Formulierung des Staunens. Wer staunen kann, bleibt in der Beobachtung, wer beobachtet, bleibt im kreativen Prozess. Doch wie aktivieren wir unser Bewusstsein fĂŒr entwickelnde KreativitĂ€t? Wie kommen wir zu dem Punkt, an dem WĂŒnsche zu Zielen werden? Ein entscheidender Schritt dahin ist: Sinn und Nutzen seines Handelns zu klĂ€ren, um in einen Prozess einzusteigen, indem sich KreativitĂ€t fĂŒr eigene Ziele entwickelt. Zu wissen, worum es gehen soll, ist der Startpunkt jedes kreativen Weges, denn ohne einen definierten Ausgangspunkt entsteht statt KreativitĂ€t nur Konfusion. «Wenn ich nicht weiĂ, in welchen Hafen ich segeln will, ist kein Wind der richtige», beschrieb der römische Stoiker Seneca diesen Zustand. Auch gutes Zureden allein oder die oft beschworenen positiven Motivationen erzeugen nicht unbedingt einen kreativen Geist. Die schlichte Formel «Sei kreativ» ist so wirksam wie »Sei jetzt spontan» oder «Sei jetzt glĂŒcklich». KreativitĂ€t lĂ€sst sich nicht einfach anordnen, sondern braucht Methoden, um Wirksamkeit zu erreichen. Neue Methoden entstehen, wenn bisher bewĂ€hrte Denk- und Wahrnehmungsmuster losgelassen werden. Der Verzicht auf Harmonie und Einheitlichkeit in den individuellen Ansichten fĂŒhrt zu Spannungen, in deren innerer Dynamik kreative Prozesse initiiert und in Handlungen umgesetzt werden. Theorie und Argumentation allein genĂŒgen nicht fĂŒr kreative Entwicklungen, es braucht auch die FĂ€higkeit zu leidenschaftlichen Aufladungen. Ohne Leidenschaft, ob in der Wirtschaft, Kunst und Kommunikation, bleiben kreative Auseinandersetzungen in ihren Auswirkungen oberflĂ€chlich oder beliebig. Mit positiven Aufladungen kann auch das Scheitern als konstruktiver Teil des Systems erkannt und angenommen werden, so dass daraus Lernprozesse entstehen, die zu einem optimierten Neubeginn fĂŒhren.
In der Harmonie entsteht selten KreativitĂ€t, im Gegenteil, empathische Störungen der Harmonie fĂŒhren bei lösungsorientierten DenkansĂ€tzen direkt in kreative Prozesse. Gelingt es darin, individuelle Unterschiedlichkeiten zu ĂŒbersteigern, entstehen Spannungen, die den kreativen Prozess auf eine offene Ebene der Gestaltung fĂŒhren. Das gilt fĂŒr Teams, Familien, Gruppen, Unternehmen oder auch fĂŒr sich selbst. Der berĂŒhmte Querdenker ist genau der Richtige, um den entscheidenden Drehmoment auszulösen. Damit die Energie dieses Momentes direkt auf ein Ziel hin gesteuert werden kann, braucht es fĂŒr die Umsetzung methodisches Handwerkzeug, so wie Handwerker ihren Werkzeugkoffer brauchen. Wer nur einen Hammer hat, fĂŒr den ist die ganze Welt ein Nagel. Je facettenreicher der Werkzeugkoffer, sprich das methodische Werkzeug, desto nachhaltiger ist die Wirksamkeit der Ideen, des Handelns und der FlexibilitĂ€t, auf VerĂ€nderungen zu reagieren.
Viele Menschen denken in Bildern, deren Alter und Brauchbarkeit fĂŒr die Gegenwart nicht mehr geeignet sind. Sie werden benutzt, weil keine neuen Bilder entwickelt werden und so jeder sichtbare Gedanke an KreativitĂ€t verblasst. Seit Menschengedenken entwickeln sich unsere Bilder facettenreich ĂŒber die Erscheinungsformen dieser Welt. Auf Basis dieser oft archetypischen Bilder konstruieren wir Bildmuster und Denkraster, mit denen wir Gegenwart gestalten. Mit Bildern, die einen Rahmen fixieren, der kreatives Denken und Handeln eher beschrĂ€nkt, als ĂŒber sich selbst hinauszuweisen. Doch wie zu anderen Bildern kommen, um kreative Entwicklungen zu fördern? Wenn es gelingt, diese kulturellen Raster in kreativen Prozessen wenigstens temporĂ€r loszulassen, entstehen neue Bilder, die wirklich verĂ€nderte Perspektiven zur Erreichung der avisierten Ziele initiieren. Diesen Big Bang der KreativitĂ€t formuliert Niklas Luhmann so: «Kultur verhindert die Ăberlegung, was man anstelle des Gewohnten anders machen könnte.» Damit sagt er das Gleiche wie der Volksmund: Man sieht den Wald vor lauter BĂ€umen nicht.
Dieter Zinns Buch “Fotokaraoke” ist erschienen im Mitteldeutschen Verlag, Halle. ruhr.speak veröffentlicht AuszĂŒge in lockerer, aber alphabetischer, Reihenfolge.