Wer die Fähigkeit beherrscht, einer Kritik genau das zu entnehmen, was für die eigene Entwicklung nützlich ist, verschafft sich wertvolles Feedback und optimiert so seine Möglichkeiten. Das sagt die Vernunft. Trotzdem hört keiner gerne Kritik, besonders dann nicht, wenn es um die eigene Person oder um das Herzblut eigener Arbeiten geht.
Ganz sicher erreicht Kritik dann ihr Gegenteil, wenn sie ohne Wertschätzung kommuniziert wird. Selbst die Art der Kritik, die sich selbst als «konstruktiv» deklariert, trifft deren Empfänger in den unbewussten Tiefen ihres Ego. Fast alle Menschen dieser Welt sind so auf ihr Selbstbild fixiert, dass sie sich nur widerwillig von einer geäußerten Kritik stören lassen wollen. Ergo: Abwehr von Kritik und zugleich die panzerartige Verstärkung eigener Positionen offenbaren sich in den Reaktionen auf «Verletzungen» des empfindlichen Ich. Dabei wird die empfangene Kritik, ob zutreffend oder nicht, gerne als inkompetent oder Besserwisserei abgetan, was sich allerdings auch häufig bewahrheitet.
Eine These des Konstruktivismus lautet, dass wir eigene Wirklichkeiten und die der anderen nur aus der Beobachtung heraus erkennen können. Wenn Kritik sich auf die Ebene der Beobachtung begibt, entsteht ein konstruktiver und kreativer Austausch. Konstruktiv deswegen, weil auf der Ebene der Beobachtung Richtig und Falsch nicht vorkommen. Stattdessen können eigene Beobachtungen, ohne Rechthaberei und Behauptungen, als persönliche Wahrnehmungen wiedergegeben werden. Wer dazu noch seine Empathie einbringt, wird die Bereitschaft fördern, Hilfreiches aus der Kritik herauszuhören.
Doch bei aller Empathie und Beobachtung sollte auch bei «konstruktiver Kritik» nicht vergessen werden, dass jede Kritik eigenen, subjektiven Bewertungen und Vorstellungen untergeordnet ist. Kritik benennt nur eine Variante, etwas zu sehen, eine andere Möglichkeit, etwas zu gestalten. Das wird bei geäußerter Kritik oft vergessen und führt zu einem fatalen Irrtum des Denkens: dass die eigenen Sichtweisen, die eigenen Wahrnehmungen, zwischen Gut und Schlecht, zwischen Richtig und Falsch unterscheiden können.
Schwierig in jeder Art von Kritik wird es, wenn diese zum Thema der Beziehung wird. Es geht dann nicht mehr um Inhalte, um die Sache, sondern um persönliche Befindlichkeiten. Darauf folgt meist die Phase des Vorwurfs als Vorstufe des Teufelskreises, unbedingt recht haben zu müssen. Wegen dieser Befindlichkeiten bleibt die Art kritischer Bewertungen wirkungslos, die auf Behauptungen basieren und sich dabei in Falsch oder Richtig erschöpfen. Abgesehen von spontanen, intuitiven Reaktionen erweisen sich kurzatmige kritische Interpretationen als kontraproduktiv und selbstgerecht.
Grundlagen hilfreicher Kritik basieren auf Beobachtung und Empathie, als öffnende Resonanzen der Kommunikation. Die Behauptung «Sprich nicht so schnell, dich versteht ja keiner» ist eine Abwertung, die sagt: Ich weiß, was schnell (falsch) und was richtig (langsam) ist. Dagegen verweist die Beobachtung «Ich kann deinem Sprechtempo besser folgen, wenn du etwas langsamer sprichst» zugleich auf eine Lösung. Es klingt anders, wenn die Behauptung spricht: «Das Bild ist zu hell und formal unruhig», oder die beobachtende Wahrnehmung sagt: «Auf mich wirkt das Bild hell, es fällt mir schwer, mich auf einen Punkt zu konzentrieren.» Was in jeder Kommunikation bewusst sein sollte, gilt auch hier: Sprache und Denken bilden eine unzertrennliche Einheit. Dieser Glaubenssatz wird als Basis hilfreicher Kundgabe von Kritik zu wenig beachtet.
Wer aufbauende Kritik äußern will, kann mit drei Fragen an sich selbst die eigenen Intentionen abklären: Welche Position ist mir wirklich wichtig an meiner Kritik? Was genau will ich mit meiner Kritik erreichen? Unterscheide ich wirklich zwischen Beobachtung und Bewertung? Wer sich mit diesem Hintergrund auf Kritik einlässt, verhält sich konstruktiv, ehrlich und fühlt sich dabei selbst entspannt. Wege der Behauptungen, Interpretationen und vorschnellen Bewertungen eröffnen keinen Dialog, sondern führen in unfruchtbare Argumentationen. Mit ihnen beginnt der Teufelskreis des «besseren Argumentes», der in einen Schlagabtausch vorgefertigter Sprachhülsen führt. Das geht zu Lasten und auf Kosten der Empathie und Kreativität. Ganz abgesehen davon, dass es so gut wie nicht vorkommt, dass ein Mensch von einer ihm wichtigen Auffassungen lässt. Auch dann nicht, wenn der andere ein vorgeblich «besseres Argument» beisteuern kann.
Dieter Zinns Buch “Fotokaraoke” ist erschienen im Mitteldeutschen Verlag, Halle. ruhr.speak veröffentlicht Auszüge in lockerer, aber alphabetischer, Reihenfolge.