Im Fotokaraoke von Dieter Zinn geht es um die Wahrnehmungen der inneren und äußeren Bilder, die unser Leben bestimmen. Es geht um Selbstbilder, Fremdbilder, Sinnbilder, Vorbilder: Wir sehen, fühlen und denken in den Sprachen der Bilder. Die Bilder im Kopf prägen das Selbstbild eines Menschen. Ihre Summe bildet ab, was in uns gleich bleibt: die Identität. In kurzen, konzentrierten Überlegungen, verbunden mit persönlichen Assoziationen, wird der Blick im Fotokaraoke auf alltägliche, fiktive und verborgene Bildwelten gerichtet.
Wenn es um Wirklichkeiten, Realitäten oder den Wahrheitsgehalt von Fotografien geht, lässt der Begriff der Manipulation nicht lange auf sich warten. Unbestreitbar ist, dass sich alle Medien, ob Bild, Wort oder Ton, systembedingt in den Grenzbereichen zwischen Beeinflussung und Manipulation bewegen. Offensichtlich ist dabei auch, es geht absolut ohne Manipulation, jedoch niemals ohne Beeinflussung. Jedes Umfeld, jeder Raum, jeder Mensch und Kontext beeinflussen uns, ob bewusst oder unbewusst. Nichts auf dieser Welt ist ohne Beeinflussung denkbar und machbar. Auf extrem schmalen Grat zwischen Abgrenzung und Unterscheidbarkeit treffen Beeinflussung und Manipulation aufeinander.
In der Eindeutigkeit gegenseitiger Ziele, Werte und Grenzen lassen sich Unterschiede zwischen Manipulation und Beeinflussung erkennen. Beeinflussung ist der positive Aspekt, weil hier eine Win-win-Situation auf Augenhöhe vorausgesetzt ist. Dagegen entsteht Manipulation durch einseitige Vorteilsnahme und führt zu Win-to-loose-Resultaten. Abgesehen davon, dass unsere Begegnungen mit Menschen, Dingen, Orten ohne Beeinflussungen nicht vorstellbar sind, wird sie in den zwischenmenschlichen Beziehungen zu einem wesentlichen Faktor der Kommunikation. Will ich eine Situation beeinflussen, um sie zu verändern, oder will ich mich mit der Situation arrangieren? Diese Frage und die Antworten darauf bedingen sich immer wieder neu, und oft braucht es Kraft und Mut, die Verantwortung für das Ergebnis zu übernehmen.
Wie in jeder Art von Kommunikation entstehen Beeinflussungen oder Manipulationen auf der Basis von Inhalts- und Beziehungsaspekten. Diese wiederum sind an dem individuellen Nutzen orientiert, der sich aus den Ergebnissen eigener Erkenntnisse und deren Zielsetzungen offenbart. Deswegen sollte mit dem Begriff der Manipulation vorsichtig umgegangen werden. Zu eng ist er verbunden mit den eigenen Brillen der Bewertungen und des persönlichen Nutzens. Die Unterscheidung zwischen Beeinflussung und Manipulation wird deutlich in der klaren Benennung der Absicht. Manipulation ist grundsätzlich eigennützig, ausschließlich auf den eigenen Vorteil ausgerichtet, auch dann, wenn sich dieser zum Nachteil anderer auswirkt.
Beeinflussungen, selbst bei einem gut gemeinten Win-win-Ansatz, können sich im Nachhinein, aufgrund neuer Bewertungen, als Manipulationen entpuppen. Dazu ein Beispiel: Wenn ich Menschen fotografiere, beeinflusse ich die Situation, indem ich arrangiere, positioniere, gestalte. Hinzu kommen technische Apparate und nicht alltägliche, ungewohnte Situationen, die auf die Abzubildenden befremdlich wirken. Beeinflussungen durch Empathie sind für mich der emotionale Teil des fotografischen Prozesses und Ausdruck meiner Haltung gegenüber den Menschen vor der Kamera.
Prozesse wiederum entstehen dadurch, dass avisierte Handlungen in zeitlichen Abläufen stehen, deren Ergebnisse auch die folgenden Aktionen beeinflussen. So auch in der Fotografie von Menschen. Sehr schnell kann eine Grenze überschritten werden, nämlich dann, wenn mein Gegenüber von mir in eine Position gebracht oder zu einem Ausdruck animiert wird, der nicht ihm selbst, sondern nur meiner Bildidee gerecht wird. Jetzt ist Aufmerksamkeit geboten, sich der Grenze zwischen Manipulation und Beeinflussung bewusst zu werden, um die Situation auf ihr Anliegen zurückzuführen.
Ein wesentlicher Aspekt, der während der Aufnahmen oft vergessen wird und doch allen fotografischen Bildern innewohnt, besteht darin: dass Fotografien im Moment der Aufnahme die Darstellung zeitlich isolieren. Mit dem Ergebnis, dass die momentanen Situationen der Beeinflussungen in der Bildentstehung hinter den zeitlich später präsentierten Bildern verschwinden. Je länger dieser Moment der Bildentstehung zurückliegt, desto unschärfer werden für die Betrachter die Grenzen zwischen Beeinflussung und Manipulation.
Inhaltliche Positionen der Bildermacher, wenn sie eindeutig formuliert sind, können Bilder vor dieser Beliebigkeit zeitlich späterer Interpretationen bewahren. Der Fotokünstler Wolfgang Tillmans relativiert die Trinität von Kameratechnik, Manipulation und Beeinflussung so: “Die Kamera lügt immer über das, was vor ihr ist, aber nie darüber, was hinter ihr ist. Bei der Fotografie wird also nur die Absicht, die hinter der Kamera steckt, wahrhaft abgebildet, was davor ist, ist immer nur eine Annäherung an die Wahrheit.”
Dieter Zinns Buch “Fotokaraoke” ist erschienen im Mitteldeutschen Verlag, Halle. ruhr.speak veröffentlicht Auszüge in lockerer, aber alphabetischer, Reihenfolge.