Barfuß in Sandalen, olivgrüne Hose, kariertes Halbarmhemd: so präsentiert sich Martin Parr (67) während der Pressekonferenz seiner Fotoretrospektive im NRW-Forum Düsseldorf.
Der vielleicht bekannteste lebende britische Fotograf konterkariert das Image seiner häufig im Existenzialisten-Look gekleideten Kollegen und hatte wohl auch mittels seines uneitlen Erscheinungsbildes leichten Zugang zu seinen rheinischen Fotomodellen: nicht etwa den üblichen Verdächtigen aus der Welt des Showbiz und der Medien, sondern zu „kleinen Leuten“. Kleingärtner*innen aus Düsseldorf und Krefeld samt ihrer Familien, die er mit 30 Fotos im NRW-Forum präsentiert. Das Lachen war ihnen verboten, so wirken sie denn tatsächlich ernsthaft und würdevoll.

Ausstellungsfoto/Hipstamatic: Hartmut BĂĽhler
Dennoch ist auch diese Parr-Serie wie eine Gratwanderung zwischen Satire und Dokumentarfotografie. Einerseits rĂĽhrt die Ernsthaftigkeit der Protagonisten, andererseits erfĂĽllen sie auch Klischees, ĂĽber die man sich gerne lustig machen wĂĽrde. Aber Parr nimmt seine Parzellen Stars ernst, stellt sie nicht „bloß“. Im Gegenteil, er zeigt ein groĂźes Herz fĂĽr sie. Was fasziniert den weltläufigen Parr an der ‘kleinen Welt“ der Schreber? „Sie pflegen ihre Gemeinschaft, säen, ernten, arbeiten hart – das ist fĂĽr mich der Inbegriff fĂĽr menschliche Qualitäten in dieser unseren Welt, die vor unseren Augen zerfällt.“ Kein Zweifel, der Kleingarten ist fĂĽr Parr ein Modell fĂĽr eine funktionierende Welt.
Kurator Ralph Goertz: „Martin hat wie ein Flaneur die Gartenanlagen besucht und binnen weniger Minuten, aber dabei ganz entspannt und immer höflich, seine ein bis zwei Einstellungen und exakten Locations gefunden. Das alles innerhalb von vier Tagen.“ Eigens fürs NRW-Forum entstand die Kleingärtner-Serie, die 2018 im Großraum Düsseldorf fotografiert wurde. In diesem Zusammenhang gilt: ab sofort weltweit bekannt wird Gert Achermann vom Kleingartenverein Stoffeln. Sein Porträt ziert ein 8,2 x 11,4 cm Tütchen, dessen Inhalt aus Sonnenblumen-Saatgut besteht. Gibt´s als Zugabe zum Eintrittsticket der Ausstellung, die mit mehr als 400 Fotos als die bis dato umfangreichste Werkschau Parrs überhaupt gilt.

Repro SaatguttĂĽtchen: Hartmut BĂĽhler
MP gilt als einer der wichtigsten Vertreter der zeitgenössischen Dokumentarfotografie und als Chronist unserer Zeit, der die Welt mit präzisem und liebevollen Blick abtastet und ihr gleichzeitig den Spiegel vorhält. Parrs Universum wirkt oft übertrieben, schrill, teilweise grotesk. Gepaart mit typisch englischen Humor lichtet er die Welt und die Menschen, die in ihr leben, in schillernden Farben ab. Aber er pflegt auch die Selbstironie: in der Serie „Bored Couples“ zeigt er neben tatsächlich gelangweilten Paaren auch sich und seine Partnerin als kommunikationsfreies Paar. Und in Selbstporträts emotionslos zusammen mit Scherenschnitten von Machthaber Putin, Arnold Schwarzenegger oder Fußballstar Messi. Aber auch solo als Astronaut, Scheich oder im Maul eines Hais.
„Wenn die Leute beim Betrachten meiner Bilder gleichzeitig weinen und lachen, dann ist das genau die Reaktion, die die Bilder auch bei mir hervorrufen. Die Dinge sind weder grundsätzlich gut noch schlecht. Ich bin immer daran interessiert, beide Extreme darzustellen.“

Ausstellungsfoto/Hipstamatics: Hartmut BĂĽhler
Neben Arbeiten aus aufsehenerregenden Serien wie The last Resort, Think of England, Luxury, Life’s a Beach und Common Sense zeigt die Ausstellung in Düsseldorf erstmals auch Fotografien seiner schwarz-weißen Debüt-Serie Bad Weather. Passend hierzu kann im Museumsshop ein dekorativer Parr-Regenschirm erworben werden.
Die MP-Schau aus vier Jahrzehnten zeigt Parr nicht nur als Satiriker, sondern richtet den Fokus auf sein fotografisches Können und den ‘zeitgenössischen Umgang’ mit dem Medium Fotografie. Ralph Goertz: „Martin Parr ist weder Knipser noch Voyeur, sondern schlichtweg ein hervorragender Fotograf.“ FĂĽr seine Aufnahmen begibt sich MP, der seit 1994 der Agentur Magnum Photo angehört, auch an Lieblingsorte von Touristen. Beispielsweise nach New Brighton, St. Moritz, Venedig oder Chichen Itza, Macchu Picchu, Dubai. Mit dem Stilmittel der Ăśbertreibung arbeitet er Klischees heraus und fĂĽhrt gerne die oft obszöne Selbstpräsentation oder das bizarre Konsumverhalten von Menschen vor Augen.

Ausstellungsplakat. Foto: Hartmut BĂĽhler
Zu Beginn seiner Laufbahn in den 1970er Jahren dokumentierte er die nähere Umgebung seiner Heimat in kontrastreichen Schwarz-WeiĂź-Aufnahmen. Anfang der 1980er Jahre verwendete er zunehmend Farbe, änderte seinen Stil und wechselte von einer 35mm Kleinbildkamera zur neuen Plaubel Makina 6×7 Mittelformatkamera. Sein 1982 begonnenes und 1986 erstmals veröffentlichtes Projekt The Last Resort, mit dem er das britische Strandleben in New Brighton dokumentierte, gilt heute als ‘Meilenstein’ der Fotografie und machte ihn international bekannt. Die berĂĽhrenden wie oft verstörenden Aufnahmen zeigen den Alltag des britischen Seebads auf völlig neue Art und Weise. Sie hinterfragen den Begriff der Schönheit und untersuchen das Schöne im Hässlichen und das Hässliche im Schönen, stilistisch unterstĂĽtzt durch das fĂĽr Parr typische Blitzlicht bei Tageslicht. „The flash“ kommt bei ihm stets und bei jedem Wetter zum Einsatz. FĂĽr Details nutzt er einen Ringblitz.
Parr sammelt auch ‘alltägliche’ Fotos anderer. Ansichtskarten, Nippes, mit Bildern bedruckte Gegenstände und auffällig gestaltete Verpackungen. Diese Sammlungen sind Gegenstand mehrerer BĂĽcher und Ausstellungen. Zu seinen Sammelobjekten gehören rund 13.000 Fotobände, Memorabilien ĂĽber Margaret Thatcher, Sammelteller und Memorabilien ĂĽber Saddam Hussein und Osama bin Laden. Sammeln und Fotografieren, so Journalist Alex RĂĽhle in der SĂĽddeutschen Zeitung (21.01.2012), seien fĂĽr Parr wie zwei Seiten einer Medaille.
Die Ausstellung wurde kuratiert von Ralph Goertz, Leiter des IKS – Institut für Kunstdokumentation, der im NRW-Forum bereits mit den Ausstellungen Joel Meyerowitz Retrospective oder Peter Lindbergh/Garry Winogrand: Women on Street vertreten war.
Ă–ffnungszeiten im Ehrenhof 2 (bis 10. November):
Di-Do 11 – 18 h, Fr 11 – 21 h, Sa 10 – 21 h, So 10 – 18 h
Text und Hipstamatics: Hartmut BĂĽhler

Foto: Hartmut BĂĽhler