Im Streifzug der Woche vom 30. Juli 2020: ein früher Industriefotograf, eine Einladung, ein neues Förderprogramm, und fremde Filterblasen.
Henri Ernest Mésière
Manchmal stößt man auf Bilder, an die man immer wieder denken muss. Mir ging es so mit diesem Bild:
Es stammt vom französischen Fotografen Henri Ernest Mésière. Ich stieß darauf, als ich nach Material zu Félix Thiollier suchte, um den es in diesem Streifzug eigentlich gehen sollte. Thiollier kommt nächste Woche, denn wie Mésière 1917 die Massen auf seine Kamera zuströmen und dann einfrieren ließ, packt mich immer noch.
Mésière, 1862 in Caen geboren, war zuerst reisender und ab 1903 niedergelassener Fotograf, ab etwa 1914 in Paris. Seine Spezialität: als Photographe-Éditeur 18 mal 24 Zentimeter große, manchmal bis zu 80 Seiten starke Fotoalben, also: Imagebroschüren, für Industrieunternehmen aller Art herauszugeben. Seine handwerklich astreinen Aufnahmen beispielsweise von Hüttenwerken sind aus industriearchäologischer Sicht ein Fest. Seine größter Trumpf war aber sein Talent, Personen praktisch beliebiger Anzahl mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit wie ein Historienmaler im Bild anzuordnen. Dem Zufall überlassen ist dabei gar nichts. Repräsentiert werden Arbeitgeberinteressen in Reinform. Strenge Hierarchien als so homogenes Ganzes erscheinen zu lassen, gefiel auch dem französischen Staat. Zumindest eine Quelle berichtet, dass er Mésière im ersten Weltkrieg mit der Produktion von Alben beaufragte: Fotos von Industriearbeit für den Industriekrieg, zur Steigerung der Kriegsbegeisterung.
Einige Mésière-Alben sind online zu finden, darunter…
…das Album der Société Métallurgique de Knutange, auch bekannt als Hütte Friede, von 1920…
…der Forges et Aciéries du Nord et de l’Est von 1929, einem Vorläufer der im vorherigen Streifzug erwähnten USINOR,…
…und undatiert das der Keramikfabrik Hippolyte Boulenger. Ausweislich der Adressangabe ist es zwischen 1914 und 1935 entstanden. Zum Vergleich der Ort auf zwei zeitgenössischen Postkarten. Die Titelblätter waren nicht immer so progressiv gestaltet wie dieses. Anfangs eher auf Nützlichkeit ausgerichtet, hielt mit der blauen Druckfarbe Eleganz Einzug. Interessant wäre zu wissen, wie sehr sich Mésière bei der Umschlaggestaltung auf die Vorstellungen seiner Auftraggeber eingestellt hatte. Konstanz gibt es auf den Innenseiten: Alle folgten dem stets gleichen Muster. Gedruckt wurden sie als Doppelseiten mit Zwischenpapier.
Das Werk auf dem ersten Bild ist übrigens weiterhin aktiv. Die 1818 bei Toulouse als Société métallurgique de l’Ariège gegründeten Usines de Pamiers firmieren ab 1907 und auch heute wieder als Aubert & Duval, mit Zwischenstationen u.a. bei Creusot-Loire und Usinor. Hergestellt werden Spezialitäten für Luft- und Raumfahrt, Turbinen, Kerntechnik, Waffen. 2007 ging in Pamiers ein komplettes zweites Werk in Betrieb. Kernstück der Airforge ist eine vom Krefelder Anlagenbauer Siempelkamp gelieferte 40.000-Tonnen-Gesenkschmiedepresse für Flugzeugteile aus Titan- und Nickel-Legierungen. Mit sehr großen Pressen kennt man sich aus: Seit 1976 betreibt Aubert & Duval in der Interforge Issoire etwas weiter nördlich bei Clermont-Ferrand eine 65.000-Tonnen-Anlage ukrainischer Bauart eine der weltweit stärksten überhaupt. Auch sie sollte ursprünglich in Pamiers aufgestellt werden. So großen Pressen braucht, wer Luftfahrt betreiben möchte, und im Bereich ab 50.000 Tonnen gibt es nur sieben Stück weltweit.
⬥
Pixelprojekt_Ruhrgebiet – Neuaufnahmen 2019/2020
Am 13. August findet die Eröffnung der diesjährigen Pixelprojekt-Ausstellung statt. Wenn Sie teilnehmen möchten, schicken Sie bitte Ihren Namen und Ihre Anschrift an Peter Liedtke – die Voranmeldung ist wegen Corona erforderlich.
Zur Neuaufnahme in die Sammlung ausgewählt wurden Fotografien von: Bernd Arnold, Karl Banski, Benito Barajas, Jochen Eckel, Amina Falah, Robert Freise, Werner Freise, Wolfgang Fröhling, Haiko Hebig, Andreas Hölz, Peter Iwers, Brigitte Kraemer, Fatih Kurceren, Hendrik Lietmann, Stefanie Pluta, Edwin Rach, Janosch Rauter, Allan Schmidt, Michael Schulz und Claudia Thoelen.
Pixelprojekt_Ruhrgebiet – Neuaufnahmen 2019/2020, Wissenschaftspark Gelsenkirchen, Munscheidstraße 14, 45886 Gelsenkirchen. Eröffnung am 13. August 2020 um 18:30 Uhr. Ausstellung bis zum 13. November 2020. pixelprojekt-ruhrgebiet.de. Einladungskarte mit Programm als PDF.
⬥
NRW-Stärkungspaket “Kunst und Kultur”
“Ausgeschrieben werden bis zu 15.000 Stipendien, die mit je 7.000 Euro dotiert sind. Bewerben können sich freischaffende, professionelle Künstlerinnen und Künstler aller Sparten, deren Hauptwohnsitz in Nordrhein-Westfalen liegt und die ihre künstlerische Tätigkeit im Haupterwerb betreiben.” Neues Programm des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft NRW, Bewerbung ab dem 10. August.
⬥
Und sonst?
TheirTube: “So you could find out things that you didn’t know you wanted to know” war mal ein Slogan einer finnischen Tageszeitung. Bei den derzeitigen auf Wiederholung, Verengung und Zuspitzung ausgelegten Vorschlagsmechanismen ist von dieser Idee herzlich wenig übrig gelieben. Daher: TheirTube um die YouTube-Bubbles anderer Leute zu sehen, und Vicariously, das Gegenstück für Twitter. (Via Kottke.)
⬥
Text: Haiko Hebig
Titelbild: Fatih Kurceren