Bekanntes zuerst: Anfang des 19. Jahrhunderts waren Duisburg und Dortmund die größten Städte der Region mit lediglich etwa 5.000 Einwohnern. Gelsenkirchen und Herne in der nördlich gelegenen Emscherregion hatten zu dieser Zeit erst einige hundert Einwohner.
Dies änderte sich mit dem Beginn der Industrialisierung des Ruhrgebietes Anfang des 19. Jahrhunderts. Innerhalb weniger Jahrzehnte entstanden über 220 Zechen und in deren Folge Kokereien sowie Eisen- und Stahlhütten.
Die wirtschaftliche Expansion machte die Anwerbung neuer Arbeitskräfte erforderlich. Die Bevölkerungszahlen stiegen explosionsartig. Angeworben wurden zunächst Arbeitskräfte aus Polen, später aus Italien, Spanien, Griechenland, Jugoslawien, Marokko und der Türkei. Hatte Bochum im Jahre 1800 noch 2.200 Einwohner, so wuchs die Zahl bis zur Jahrhundertwende auf 65.000 und im Jahre 1905 auf 117.000. Vormalige Dörfer entlang der Emscher entwickelten sich zu Großstädten.
Neben der Arbeitsmigration gab es aber auch Wellen der Einwanderung wie z. B. die der asylsuchenden Flüchtlinge seit den 1980er Jahren, die der Spätaussiedler in den 1990er Jahren oder die der Kontingentflüchtlinge. 2015 wird die massenhafte Flucht nach Deutschland (insbesondere aus Syrien und Afghanistan), aber auch die Zuwanderung aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten zunehmend von breiten Bevölkerungskreisen als Problem betrachtet und stellt den Zusammenhalt in der Gesellschaft vor erhebliche Aufgaben.
Dabei ist die Integration von Menschen anderer Kulturen in der Region weitgehend geglückt und kann an vielen Stellen als vorbildlich beschrieben werden. Man stand über Jahrzehnte gemeinsam „vor der Kohle“ oder am Hochofen und hat zusammengearbeitet.
All dies lässt sich nicht nur nachlesen, sondern auch – Dank der Fotografie und ihrer Nachwuchsschmieden an der Folkwangschule und später auch der FH Dortmund sowie der regionalen Fotografengemeinschaft – in der Rezeption der regionalen Fotogeschichte ablesen.
Am Anfang stehen Fotografen wie Hans Rudolf Uthoff, der als Fotograf der „Hüttenzeitung“ des Bochumer Vereins auch den Alltag der Stahlarbeiter fotografierte und 1965 die Anreise neuer türkischer Hüttenarbeiter und ihre Ankunft in der Serie „Türkische Gastarbeiter für das Ruhrrevier“ fotografierte, Manfred Vollmer, der seit 1971 und über Jahrzehnte in der Serie „Arbeitswelt“ den Arbeitsalltag und die Arbeitskämpfe der Industriearbeiter mit der Kamera begleitete und damit – ganz nebenbei – auch die Arbeitsgeschichte der Zuwanderer, Henning Christoph (sechsfacher World Press Preisträger), der in der Zeit von 1978-1990 die Freizeit der türkischen Mitbewohner fotografierte oder auch Brigitte Kraemer, die den Alltag in Migrantenfamilien zu ihrem Hauptthema machte und hier insbesondere auch den Migrantinnen zu öffentlicher Wahrnehmung verhalf. Mit der Serie „so nah – so fern“ gelang ihr ein beindruckendes Dokument dieser Sozialgruppe.
© Manfred Vollmer aus der Serie: Arbeitswelt
Im Laufe der Jahre werden die Themen differenzierter und auch ihre Darstellung. Während am Anfang die Neugierde an der fremden Kultur im Vordergrund stand, werden die Arbeiten zunehmend sozialkritischer. So bei Klaus Rose, der 1980-1989 die Ankunft von DDR Flüchtlingen in Unna-Massen fotografierte. Die Serie heißt „Ankunft im Revier“. Michael Kerstgens fotografiert 1995 in der Serie “Asyl“ Menschen, die im Gefängnis auf ihre Abschiebung warten und Andre Zelck porträtiert 2008 in der Serie „Geduldet geboren“ Menschen und deren Kinder, die in Deutschland lediglich geduldet werden. Ein Thema, das Andreas Langfeld 2013 mit der Serie „Status“ wieder aufgreift. Rosa Maria Rühling fotografiert in der Serie „AZIS“ 2010 die rumänisch-bulgarische Stricherszene in Dortmund und Daniel Kessen 2013 die migrantische Notwirtschaft auf Flohmärkten.
© Klaus Rose aus der Serie: Ankunft im Revier
 © Daniel Kessen aus der Serie: Markt
Aber es entstehen auch Serien, die die kulturelle Bereicherung der Region durch die Zuwanderung zeigen. Gerno Michalke z. B. zeigte schon 1991-1992 mit der Serie „Afrika United – Schwarzer Fußballzauber im Revier“ den „schwatten“ Gast-Verein der Essener Turngemeinschaft-West. 1995 portraitiert Heiner Schmitz, ehemaliger Fotografieprofessor in Dortmund, mit „Mintarder Straße“ eine Roma-Familie in Mülheim. Mit der Fotoserie „Wodka, Visa, Wurst – eine tägliche Reise von Duisburg nach Moskau“ rückt Janne Reichert ein vielen unbekanntes Reiseverhalten der russischen Community 2005 in den Fokus. Ein großes und ungemein beliebtes Thema ist der 2002 in einem Gewerbegebiet in Hamm entstandene Sri Kamadschi Ampal Tempel, der zweitgrößte Hindutempel Europas. Nicht nur Brigitte Kraemer, die sich hier mit dem Thema Glauben beschäftigt, sondern auch David Klammer, Anke Kramer, Tom Rölecke und Matthias Gödde schaffen hier außergewöhnliche Arbeiten, die weit über das Normale hinausgehen. Ekkehart Bussenius und Tania Reinicke porträtieren mit ihren „Heimatbildern“ 2005 die multikulturelle Gesellschaft. Und Magdalena Spinn zeigt mit ihrer Serie „Pottperlen“ 2010/2011 die Schönheit der weiblichen Zugewanderten. Andere zeigen das regionale Engagement, das über die eigenen Grenzen hinausgeht, mit dem Friedensdorf Oberhausen, mit dem sich sowohl Brigitte Kraemer 2004 als auch Jakob Studnar 2014 auseinandersetzten.
© Gerno Michalke aus der Serie: Afrika United – Schwarzer FuĂźballzauber im Revier
Inzwischen sind es Fotografen mit Migrationshintergrund, die in ihren Themen die eigene Migrationsgeschichte bearbeiten. So Fatih Kurceren mit den Serien „Opferfest in Duisburg Meiderich“ 2008, „Türken“ 2008-2011 und „Auf der Straße“ 2013, oder auch Kim Sperling mit koreanischen Wurzeln in der Serie „Kyopo“ über die koreanische Arbeitsmigration. Beide haben im Ruhrgebiet Fotografie studiert. Damit hat die Auseinandersetzung nun eine neue Qualität und Tiefe erreicht, die viele Erkenntnisse auch jenseits von statistischen Erhebungen zulassen.
© Fatih Kurceren aus der Serie: Türken
Aktuell reagieren die Fotografen auf die aktuelle Flüchtlingswelle. So Rainer Bigge mit der Serie „to go or not to go“ aus dem Jahr 2016 oder auch wieder Brigitte Kraemer in ihrer aktuellsten Arbeit zum Thema Flüchtlinge. Und sicherlich noch viele mehr.
© Rainer Bigge aus der Serie: To go or not to go
Viele der vorgestellten Serien zeigen wie selbstverständlich Themen der „neuen Nachbarn“ mit Migrationshintergrund. Sie zeigen (fast) fremde Kulturen in der Nachbarschaft und sie zeigen die Geschichte einer zusammengewachsenen multikulturellen Gesellschaft, in welcher der Taubenvater ebenso exotisch ist wie der Imam einer türkischen Gemeinde. Und auch die Nöte von Asylsuchenden und geflüchteten Menschen werden nicht nur als aktuelles Phänomen emotional erfahrbar gemacht.
Und wir sehen, Zuwanderung ist kein neues Thema – zumindest nicht im Ruhrgebiet. Zuwanderung heißt Bereicherung. Was wäre die Region Ruhr ohne ihre neuen Nachbarn und Nachbarinnen?
© Magdalena Spinn aus der Serie: Pottperlen
Die beschriebenen Serien und einige mehr sind aktuell sichtbar gemacht auf der Internetseite www.neueheimat.ruhr. Die Bildserien stammen aus der Sammlung des Pixelprojekt_Ruhrgebiet – digitale Sammlung fotografischer Positionen als regionales Gedächtnis. Pixelprojekt_Ruhrgebiet reagiert damit auf aktuelle Ereignisse und die Gefahr einer sozial auseinanderdriftenden Gesellschaft.
Text: Peter Liedtke