”Im Wesentlichen ein Portraitist”
Das Intro-Foto zur Ausstellung provoziert: ist die Präsentation von Baby Raphael heutzutage statthaft aus moralischer Sicht? Und das Plakatmotiv ‘In der Universität’ Bremen von 1997/98 irritiert: topscharf ist es nicht, das Gesicht des Abgebildeten ist verschattet, die Farben sind verwaschen, der Text auf dem T-Shirt unlesbar.

Charles Bojman, Lys-Chantilly; 1975/1993. Chlorbromsilber-Abzug, 77×75,5 cm. Ausstellungsfoto: Christoph Kniel.
Faigenbaum (*1954 in Paris) ist beeinflusst von der klassischen Malerei, seine Motive sind hauptsächlich Menschen, fotografiert in ‘einfühlsamer Unmittelbarkeit’ (WAZ.de, 03. Juli d. J.). Aber auch Städte, Stillleben und Landschaften.
Und so sind denn seine Bilder unterteilt u. a. in die Serien Die zwei Mütter 1997-2020, Portraits wie Skulpturen und umgekehrt 1984-2020, Santu Lussurgiu 1999-2019, Prag 1983-94, Kolkata 2011-14, Rue de Crimée, Paris 2020, Bremen 1996/97 oder Lys-Chantilly 1989.

Serie Die zwei Mütter (Mitte) und der 66 teilige Zyklus 34, rue de Clichy. In beiden Werkgruppen verarbeitet der französische Fotograf den Tod seiner Mutter und den seiner Schwiegermutter. Ausstellungsfoto: Christoph Kniel.
Ergreifend sind zwei Werkgruppen, die der Mutter und Schwiegermutter des Künstlers gewidmet sind. Darin setzt sich Faigenbaum mit dem Tod auseinander. Zu sehen ist u. a. die Fotoreihe ’34, rue de Clichy’, die in 66 Abbildungen das verwaiste Apartment nach dem Sterben von Mutter Suzanne zeigt.
PF bezeichnet es als sein „emotionalstes Werk“. Dr. Heinz Liesbrock, Direktor des Josef Albers Museum Quadrat zum Magazin Lebensart-Regional.de: „Durch innere Zurückhaltung ist es Faigenbaum gelungen, dass die Emotionen mit dem Gesamtwerk verschmelzen.“
Vier Jahre vor PF, Professor an der École nationale supérieure des beaux-arts, hat sich auch der gleichaltrige Hochschulkollege Knut Wolfgang Maron mit seiner Serie ‘Ein Leben’ dem Sterben seiner Mutter fotografisch genähert.
siehe auch:
Ausstellungsbesprechung zu “Ein Leben” auf ruhrspeak 2012
Nie nimmt PF seinen Portraitierten ihre Würde. Er – ”im Wesentlichen bin ich ein Portraitist” (Patrick Faigenbaum-Katalog, S. 205: s. u.) – ist das Gegenteil des Paparrazo. Nur durch seine Behutsamkeit wurde ihm gewährt, jahrhundertealte italienische Adelsfamilien in ihren Palazzi in Rom, Florenz oder Neapel zu fotografieren (1984-91).

Familie Capece Minutolo del Sasso, Neapel; 1991 aus der Serie Italienische Familien: Florenz, Rom, Neapel; 1984-91. Ausstelluungsfoto: Christoph Kniel.
Ausstellungskurator Jean-Francois Chevrier stellt diesen würdigen Familienbildern die Marmorantlitze von Statuen aus den Kapitolinischen Museen von Rom, aufgenommen 1974-2020, gegenüber. Diese Konstellation sowie das gedämpfte Licht im Museum Quadrat erzeugen gleichermaßen eine magisch-suggestive Atmosphäre und Zeitreise.

Das Familientreffen der Faigenbaums in Lys-Chantilly 1989 umfasst 26 sw-Motive im Format 27,5×28 cm. Ausstellungsfoto: Christoph Kniel.
Apropos Baby Raphael. Während uns die Nachkommen der Adelsfamilien statuarisch und wie in Konventionen erstarrt ansehen, hat der Vater Raphaels im Zyklus ‘Lys-Chantilly 1989’ den Blickwinkel eines etwa Siebenjährigen angenommen, der dem Faigenbaum’schen-Familientreffen neugierig zusieht. Diese Serie umfasst 26 sw-Motive je 27,5×28 cm Chlorbromsilber.
Die vier Fotos Rue de Crimèe, 2020, zeigen drei obdachlose junge Männer in Paris: nicht voyeuristisch oder abschätzig, sondern in und mit sympathischer Würde.
Fotokünstler Faigenbaum nimmt sich für seine Bilderreihen viel Zeit. Waren die frühen Arbeiten in schwarz-weiß fotografiert, so beginnt er Ende der 90er Jahre auch in Farbe zu arbeiten. Von 1996 -98 ist er Artist in Residence auf Einladung des Museums Weserburg in Bremen, um ein poetisches Bild der Stadt zu entwerfen. Solche Portraits von Städten entstehen in der Folge auch in Barcelona, Santu Lussurgiu (Sardinien), Kalkutta und Prag.
Prag wurde ihm zum privaten Wendepunkt. Während der Erstellung der Schwarzweiß-Serie Prag 1983-94 lernte er Angela Ledda kennen, später die Mutter Raphaels. Und Leddas sardische Mutter Salvatorica wird er Jahre später fotografieren und in die Serie Die zwei Mütter integrieren.

Die Zyklen 34, rue de Clichy und Die zwei Mütter. Ausstellungsfoto: Christoph Kniel.
Raphael zum Dritten: Faigenbaum hätte gerne Bob Dylan fotografiert. In der Tat hat er dieses Porträt dann erstellt: mit Sohn Raphael, in der Haltung eines Stars. Dieses Porträt diente im Winter 2008 als Plakat für die erste große Retrospektive in Frankreich, im Museum von Grenoble: ‘Alle Arbeiten von Faigenbaum haben eine doppelte Lesart: zwischen der Geschichte, in diesem Fall dem Mythos des Rockers, und dem aktuellen Geschehen, seinem Sohn.’ (Le Monde, 13.12.2008). Dieses Motiv wird in Bottrop nicht gezeigt. Jedoch den Sohn in Santu Lussurgiu 2013 im Format 78,5×62,5 cm.

Raphael, Santulussurgiu, 2013/2021. Pigmentierter Tintenstrahldruck nach analogem Negativ. 78,5×62,5 cm. Ausstellungsfoto: Christoph Kniel.
PF ist der Henri Cartier-Bresson-Preisträger von 2013 für das Projekt Kolkata. Und dort machte er auch Stillleben von Früchten. Dabei erweist er sich als ein meisterlicher Portraitist von Baum- und Feldfrüchten.

Motive aus Santulussurgiu, Sardinien; 1999-2019. Ausstellungsfoto: Christoph Kniel.
‘Die Faigenbaum Werkschau in Bottrop ‘scheint uns auch deshalb wichtig, da das deutsche Ausstellungsgeschehen bereits seit längerer Zeit durch eine gewisse Beschränkung bestimmt ist, dominiert durch eine Auswahl solcher Positionen der deutschen Gegenwartsfotografie, die sich auch internationaler Beliebtheit erfreuen. Es ist eine sich wiederholende Auswahl weniger Namen’, … so Heinz Liesbrock, (Katalog-Zitat, S. 7 – s. u.).
Die Ausstellungsbilder sind entweder chromogene-, Chromsilber-, Silbergelatine-Abzüge oder pigmentierte Tintenstrahldrucke.
Die Werkschau wird gefördert durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen und die Egon Bremer Stiftung.
Katalog Patrick Faigenbaum. Photographien 1974 bis 2020 im Verlag Schirmer/Mosel. Mit Texten von Jean-François Chevrier, Heinz Liesbrock und Jeff Wall. 224 Seiten, 178 Tafeln in Duotone und Farbe, gebunden mit Schutzumschlag. Preis im Museum € 34,80
Ausstellungsfotos: Christoph Kniel
Text: @hartmut.buehler.fotografie
Museumszentrum Quadrat Bottrop
Anni-Albers-Platz 1
D-46236 Bottrop
www.quadrat.bottrop.de