Dortmund und der Vorstadtdschungel von Paris, der Regenwald Südamerikas und „Uri Nara – unser Land“, Las Vegas, Alabama und der Weltraum, Sambia und der Mars, nah und fern, Realität, Fiktion, Utopie und Identität – alles hängt miteinander zusammen und ist derzeit in Form wunderbar spannender Fotografien im Künstlerhaus Dortmund zu sehen.
Fotograf Kim Sperling (Jahrgang 1975, Preisträger der Wüstenrot Stiftung 2009) hat koreanische Adoptivkinder fotografiert. Sperling weiß sehr genau, wen er portraitiert – er selbst wurde in Seoul geboren und im Alter von sechs Monaten von deutschen Eltern adoptiert. Wie viele andere Jugendliche begann er in der Pubertät, Fragen nach seiner Identität zu stellen. Während seines Studiums besuchte er Südkorea und begann, sich intensiv mit dem Thema Adoption zu beschäftigen, machte daraus seine Diplomarbeit an der Fachhochschule Dortmund. Er fotografierte junge Erwachsene koreanischen Ursprungs, die einst adoptiert, in ihre ursprüngliche Heimat zurückgekehrt waren. Sein Projekt „uri nara (unser Land)“ zeigt sie in ihrem neuen Umfeld in Südkorea.
© Kim Sperling, “uri nara (unser land)”
Das World Press Photo des Jahres 2007 der Kategorie „Arts and Entertainment Stories“ schoss der Franzose Denis Darzacq: Seine Serie „La chute – Sturz“ von 2005-2006 zeigt scheinbar schwebende Street Dancer vor Häusern und Gebäuden Pariser Vorstädte in akrobatischen Körperverrenkungen. Sieht auf den ersten Blick aus wie Photoshop-getunt, ist es aber nicht: sie sind einfach real und phänomenal.
© Denis Darzacq, „La chute – Sturz“
Die inhaltliche Klammer „das Nahe und die Ferne“ der Ausstellungskuratoren Arno Schidlowski und Jens Sundheim zieht den Besucher in den verwinkelten KĂĽnstlerhausräumen in doppelten Sinne in seinen Bann: frappant irritierend die Serie „Camera“ von Bernadette Wolbring (Jg. 1975) aus Stuttgart. Ihre Bilder sind im weitesten Sinne Reproduktionen von Gemälden. Ausgangsmaterial sind Gemälde von Fra Angelico, Jan Vermeer und Gerhard Richter. Wolbring beschäftigt sich stark mit „interpretative lighting“: bei dieser Art der Beleuchtung wird die Vorlage – nicht wie sonst ĂĽblich – gleichmäßig von zwei Seiten ausgeleuchtet, sondern das Licht wird so gesetzt, dass es „nur“ das fĂĽr wichtig Erachtete hervorhebt. Die Fotografien zeigen leere Interieurs und „sind Analogien zur Bilderzeugung“. Erhellende Details zu „Camera“ – siehe Website der KĂĽnstlerin.
„Dying Birds“ (2007-2009) ist eine Serie von fotografischen Studien der dänischen Künstler Trine Søndergaard (*1972) und Nicolai Howalt (*1970) zum Thema Vogeljagd. Über Jahre hinweg nahmen die Fotografen an Jagden teil und begleiteten diese mit der Kamera. Die Serie untersucht ein klassisches und existenzielles Thema, nutzt aber gleichzeitig die kreativen Möglichkeiten neuerer Fotografie und schafft so einen durchlässigen Grenzbereich zwischen Dokumentarfotografie und Kunst.
Die Hamburgerin Linn Schröder (Jg. 1977) präsentiert und kontrastiert in der Serie „To Bejewel“ (entstanden 2009-10) die künstliche Glitzer- und Fakefassade von Las Vegas mit ihrer für Menschen eher lebensfeindlichen natürlichen Lage in der Wüste Nevadas.
Finnin Sanna Kannisto (geboren 1974) hat ein Faible für Flora, Fauna und Exotik: sie begleitete Wissenschaftler in den Regenwald Südamerikas und baute dort ihr Studio auf. Klinisch steril und streng sind ihre Aufnahmen „On Forest Floor“ (2006) nicht: auf dem Aufnahmetisch sammeln sich zum Beispiel vom Licht angezogene Insekten oder von Bäumen fallende Samen und Blätter. Der schwarze Vorhang gibt ihren Arrangements eine theatralische Bühne.
© Sanna Kannisto, „Selected Works 2001-2010“
Den ältesten Protagonisten der Ausstellung portraitierte magisch-meisterhaft Regine Petersen (geboren 1976). Dieser, ein Meteorit ist wohl viele hundert Millionen oder wenige Milliarden Jahre alt und hatte eine schicksalhafte Begegnung mit Ann Hodges aus Alabama, USA. Er durchschlug 1954 ihr Haus in Sylacauga und verletzte sie leicht. „Stars Fell on Alabama“ ist eine ungeheuer spannende Fotoserie, die sich mit einem Zusammenprall „aus Alltag und Universellem“ befasst. Recherchen Petersens vor Ort ergaben, dass das Ehepaar Hodges damals vom Medieninteresse überwältigt wurde, Ann einen Nervenzusammenbruch bekam und sich niemals vollständig von der Berührung mit „Außerirdischem“ erholte. Petersen nutzt das Ereignis auch als Vorwand für eigene Fotografien, in denen sie neben den Bedingungen des Mediums auch „ihre Position im Universum reflektiert“. Einzelheiten zur Arbeitsweise Petersens sowie jede Menge mysteriöser Details zu „Stars Fell on Alabama“ verrät ein Besuch auf der Website der Hamburger Fotografin.
Skurril die Arbeit „The Afronauts“ der Spanierin Cristina de Middel. In den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts befasste sich die Regierung der Sambischen Republik allen Ernstes mit dem Projekt, einen in Sambia geborenen Astronauten zum Mond zu senden. Dieses Vorhaben ist nur im Hinblick der Freude über die Unabhängigkeitserklärung am 24. Oktober 1964 von Grossbritannien und mit dem Wunsche nach einer glorreichen wirtschaftlichen Entwicklung zu verstehen. Die 2012 entstandene Fotoserie glänzt durch ihre Mischung aus ungewöhnlichen Bilderwelten und liebevoller ironischer Haltung. Nicht umsonst steht die 38jährige Fotografin auf der Shortlist zum Deutsche Börse Photography Prize 2013. „The Afronauts“ war als Buch erhältlich und ist bereits gesuchtes (und teures) Sammlerstück.
© Cristina de Middel, „The Afronauts“
Bis zum 12. Mai im KĂĽnstlerhaus Dortmund
Kuratiert von den Fotografen Arno Schidlowski, Hamburg und Jens Sundheim, Dortmund.
Der Eintritt ist frei.
Infos: www.kh-do.de
Text & Fotografie: Hartmut S. BĂĽhler