Ja, doch, die große Geburtstagstorte für Peter Liedtke musste sein, weil wohl verdient. Das meint nicht nur Katja Illner, frisch “gebackene“ Pixelprojekt_Ruhrgebiet-Fotografin. Sie und die über 200 Gäste, die die Jubiläumsfeier „Neuaufnahmen 2012/2013“ und gleichzeitige Geburtstagsparty „10 Jahre Pixelprojekt_Ruhrgebiet“ im Wissenschaftspark Gelsenkirchen miterlebt haben, sind unisono der Ansicht, daß Liedtke, der „Vater“ des Pixelprojekts die im Look der Einladungskarte designte Marzipanleckerei zu Recht verdient habe.
In Liedtkes Rückschau kamen auch die damals grassierenden Ängste zahlreicher Bildautoren vor der Digitalen Fotografie und vor Datendiebstahl zur Sprache. Doch aus der anfänglichen Zurückhaltung – im ersten Jahr nahmen 26 Fotografinnen Und Fotografen an der nicht kommerziell ausgerichteten Initiative Pixelprojekt teil – sind heute 247 geworden, die mit ihren 394 Bildserien und fast 7000 Einzelfotos ein wertvolles Gedächtnis des Ruhrgebiets im Wandel dokumentieren. Darin enthalten sind die 25 Fotoserien von 23 Fotografen der „Neuaufnahmen 2012/2013″.
Liedtke erkannte bereits 2002, daß das World Wide Web die unbegrenzte Möglichkeit bietet, auf scheinbar einfache Weise unzählige Fotografen auf einer einzigen Website einzubinden. Endlos viele Bilder können auf einer Seite gezeigt werden, diese können strukturiert, laufend ergänzt und jederzeit und auf der ganzen Welt gesehen bzw. abgerufen werden. Diese Vision war gleichsam der Beginn. Nach der schriftlichen Fixierung der Idee wurden Verbündete im Geiste sowie Geld gesammelt. 2003 gab es die erste Bezuschußung durch das Kultusministerium NRW im Rahmen der regionalen Kulturförderung. Im selben Jahr wurde auch die Jury, die über die Bewerbungen um Aufnahme in das neue Projekt entscheidet, gefunden.
Der Rest ist Geschichte: mit dem Wissenschaftspark Gelsenkirchen wurde ein Ort gefunden, der als Ort der Begegnung und als Ausstellungsraum für Fotos gleichermaßen prädestiniert ist. Und mit dem Wissenschaftspark Geschäftsführer Dr. Heinz-Peter Schmitz-Borchert wird ein engagierter Förderer der Idee gewonnen.
Am 18. März 2004 um 20.30 Uhr wurde die Internetseite des Pixelprojekts_Ruhrgebiet freigeschaltet: in Anwesenheit von NRW Staatssekretär Manfred Morgenstern, Dr. Jochen Stemplewski, Vorsitzender der Emschergenossenschaft sowie Prof. Dr. Roland Günter vom Deutschen Werkbund.
Wenn Liedtke der Vater des Pixelprojekts_Ruhrgebiet ist, so gilt denn als sein „Patenonkel“ Reinhard Krämer (Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW). Denn der hat von Anfang an an Liedtkes Idee und ihren Erfolg geglaubt.
Mit Fotografie Zukunftsperspektiven sichtbar machen
Hohe Weihen erhielt die Feierstunde von Florian Ebner, Leiter der Fotografischen Sammlung im Museum Folkwang, Essen. Er lobte den „kooperativen Spirit“, der zur Gründung des P_R führte und erinnerte an die Ausstellungen „Endlich so wie überall – Bilder aus dem Ruhrgebiet“ (Essen 1987) und „Schön ist es auch anderswo“ (Oberhausen 1999). In allen drei Initiativen zur fotografischen Dokumention des Ruhrgebiets sieht Ebner Geistesverwandtschaften. Und mag auch das Ruhrgebiet im pittoresken Sinne nicht schön zu sein wie beispielsweise Rothenburg ob der Tauber, „fotogen“ sei es aber stattdessen, ja die Region sei ein Paradies für Fotografinnen und Fotografen. Wohl kaum eine andere Industrieregion sei im 20. Jahrhundert so intensiv fotografisch erkundet worden wie die Gegend zwischen Duisburg und Dortmund. Dies nicht zuletzt dank einer Vielzahl talentierter Kamerakünstler und ausgezeichneter fotografischer Ausbildungsstätten. Auch darüber gibt das Pixelprojekt Auskunft.
Im Blättern der 369 Portfolios lasse sich eine Art Dialektik des „Ruhrgebiets-Fotogenen“ wahrnehmen. Ebners Rede hatte die Überschrift „Über die Möglichkeit mit Fotografie Zukunftsperspekiven im Ruhrgebiet sichtbar zu machen“. Dabei regte er an, das Pixelprojekt nicht nur als digitales Archiv fotografischer Portfolios zu begreifen, sondern auch die vernetzte Dimension unserer Welt jenseits des geographischen Gebildes Ruhrgebiet herauszuarbeiten. Dies könne bedeuten, stärker noch als bisher, auf strukturell verwandte Regionen in Europa oder weltweit einzugehen, beispielsweise die Wege der Migranten zurückzuverfolgen, die ins Ruhrgebiet gekommen sind. Die Dimension einer Kulturregion und einer Welt lasse sich nicht allein am sichtbaren Horizont der Halden und Straßenzüge erfassen, sondern erst im Nebeneinander unterschiedlichster fotografischer Ansätze und Serien. Diese seien die pixel und pieces, die zum kompositen Bild einer Region führen.
Innerhalb der fotografischen Landschaft des Ruhrgebiets sei das Pixelprojekt nach nur zehn Jahren zu einer wichtigen „Landmark“ geworden, ebenso weithin sichtbar wie die Monumete der „Land Art“, die es dokumentiert. Vom kooporativen Geist des Pixelprojeks sei noch viel zu erwarten.
Den Begriff Landmark griff Gelsenkirchens Bürgermeister Klaus Hermandung auf, der sich glücklich über das bisher Erreichte zeigte und dem Liedtke-Team zum Erfolg gratulierte.
Apropos Prognose für 2023 – wie sehen LiedtkeKrämerEbner das Pixelprojekt in zehn Jahren? Natürlich könne die Fotografie nicht die Zukunft fotografieren, aber sie kann, so Ebner, Zukunftsperspektiven sichtbar machen. Vielleicht, so Krämer, werden Bilder gemacht von Dachgartenlandschaften in blühenden Städten wie Bottrop oder Bochum. Schließlich seien schon heute und weltweit 600 Millionen Menschen involviert in der Bau und Pflege von „urban gardening“.
Bevor jedoch der Kuchen angeschnitten und unter allen Gästen verteilt wurde, erfolgte die Präsentation der Urheber der Neuaufnahmen 2012/2013 vor Publikum: so bat denn Liedtke die anwesenden Fotografen und Fotografinnen auf die Bühne. Darunter die jüngste, Jasmin Scherer, 25 Jahre und als ältesten den sehr dynamischen Senior Hans Ulrich Utthof, 85, der extra aus Hamburg anreiste.
Dass die Feierstunde nicht nur den Augen, sondern auch den Ohren der Besucher schmeichelte, dafür waren verantwortlich Johanna Schneider (Gesang) und Alexander Badiarov (Gitarre).
„Eine gute Arbeit ist eine gute Arbeit“
23 Fotografen sind mit 25 Fotoserien vertreten: Schwarzweiß-Aufnahmen, Porträts, Architektur, Industrie, Landschaften. Das zehnjährige Bestehen sei bei der Auswahl aus den knapp 150 Bewerbungen irrelevant gewesen, so Liedtke: „Eine gute Arbeit ist eine gute Arbeit, da spielt ein Jubiläum keine Rolle.“
Einen besonderen Stellenwert nehmen für Liedtke die historischen Serien von Hans Rudolf Uthoff ein: „Eine seiner Serien befasst sich mit türkischer Migration und zeigt Bilder, die man so noch nie gesehen hat.“ Uthoff dokumentierte 1965 den Weg der Fremdarbeiter von der Abfahrt in Istanbul bis zur Ankunft am Dortmunder Hauptbahnhof. Uthoffs zweite Reihe „Tief im Westen – Das Ruhrgebiet von 1950 – 1969“ versprüht Nostalgie pur: den Gemüsemann mit einem alten Pritschenwagen, Skat spielende Männer im Park, Karneval in Bochum 1962. Mit Uthoff steht Liedtke seit drei Jahren in Kontakt.
Liedtke über die „Sozialen Räume“ von Bettina Steinacker: „Sie besucht Orte, von denen wir uns wünschen, dass es sie nicht geben müsste.“ Steril und ohne Menschen hat die Fotografin eine Fixerstube in Essen, eine Einrichtung der „Tafel“ in Gelsenkirchen, eine Suppenküche in Essen und eine Babyklappe in Castrop-Rauxel festgehalten. Liedtke versteht die Foto-Sammlung als “Monitoring” der Entwicklung des Ruhrgebiets: “Fotografie kann uns den emotionalen Bezug zur Realität geben, da wo wir sie selbst nicht in Augenschein nehmen können”.
Für die Serie „Parade – Ein Musikfestival im Ruhrgebiet“ hat Katja Illner nicht nur die „Love Parade“ in Dortmund und Essen fotografiert, sondern auch die von Duisburg, bei der 21 Besucher ums Leben kamen. Eines ihrer Motive ziert das Austellungsplakat der Neuaufnahmen 2012/2013.
Bis Samstag, 31. August, sind die Neuaufnahmen 2012/2013 im Wissenschaftspark in Ückendorf über die gesamte Länge der Glasarkadengalerie an der Munscheidstraße zu sehen. Sie sind eine Mischung aus aktuellen und historischen Bildserien über das Ruhrgebiet.
Der Ausstellungskatalog mit 126 Seiten kostet € 14,50
Die Protagonisten der Ausstellungseröffnung: Peter Liedtke, Initator und Organisator des Pixelprojekts_Ruhrgebiet; Silke Wilts, die stellvertretende Vorsitzende des Fördervereins Pixelprojekt_Ruhrgebiet moderierte: „Peter darf zu Recht stolz wie Bolle sein“; Reinhard Krämer (Gruppenleiter Regionale und Internationale Kulturpolitik, Interkulturelle Kulturarbeit, Kultur undStrukturwandel, Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen); Florian Ebner (Leiter der Fotografischen Sammlung im Museum Folkwang, Essen).
Pixelprojekt-Förderer: Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen; Sparkasse. Gut für Gelsenkirchen; Stadt Gelsenkirchen; Wissenschaftspark Gelsenkirchen; Pixelprojekt Ruhrgebiet Förderverein e. V.
Pixelprojekt-Freunde: Ruhr Museum; DGPh; werkbund Nordrhein-Westfalen; Kulturserver The Community for Art and Culture; Pixelprojekt-Ruhrgebiet Galerie Hundert, bild.sprachen Fotografieprojekte
Noch mehr Pixelprojekt – Peter Liedtke im Radio WDR5
Text: Hartmut S. Bühler, Fotograf
Fotos: Diethelm Wulfert