Irgendwie ist es wie jedes Jahr und doch ist es wieder überraschend, welche neuen und historischen Serien neu in das Projekt aufgenommen werden und somit das historische und aktuelle Bild der Region Ruhrgebiet abrunden. Damit ist Pixelprojekt_Ruhrgebiet auch eines der wenigen Projekte, die mit jedem Jahr ihres Fortbestehens an Kraft und Qualität gewinnen. Und wenn wir einen Blick in die Zukunft wagen wollen, so ergeben sich die erahnbaren Perspektiven aus der Geschichte und den immer wieder neuen Herausforderungen einer jeden Zeit, aktuell wohl der Flüchtlingszuwanderung.
Es wundert daher kaum, dass in diesem Jahr zwei Fotoserien, die Serie „To go or not to go“ von Rainer Bigge und die Serie „Status“ von Andreas Langfeld sich mit dem Thema Flüchtlingsunterkünfte (Bigge) und Asyl (Langfeld) beschäftigen.
GeflĂĽchtet
Rainer Bigge zeigt uns in seinen Bildern eine Zeltstadt in Recklinghausen, die als Erstaufnahmeunterkunft des Landes NRW dient. Er zeigt diesen Ort leer mit den Spuren der letzten Bewohner. Seine Bilder zeigen die Kälte eines lediglich auf die notwendigsten Bedürfnisse der Bewohner, aber auch des empfangenden Verwaltungsapparates reduzierten Lebensraumes. Willkommenskultur scheint hier ein Fremdwort zu sein. Rainers distanzierte Fotografie unterstreicht dabei die Kälte.
Bei Andreas Langfeld sieht es ganz anders aus. Andreas fotografiert die Menschen, vornehmlich Sinti und Roma, die Ihren Weg über Lampedusa nach Deutschland oder hier konkret nach Duisburg gefunden haben. Und er ist ganz nah dran, sieht Situationen, die von der Verzweiflung der Asylsuchenden geprägt sind und macht so seine Bilder, die Betroffenheit auslösen. Wie heißt es im Artikel 1 des Grundgesetzes? „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Hier ist nicht die Rede von Deutschen oder Europäern, sondern von Menschen. Seine Arbeit ist ein Apell an die Menschlichkeit jenseits von praktischen Lösungen für diese neue Problematik. Und seit 2015 wissen wir, dass Menschen auf der Flucht durch nichts aufzuhalten sind, auch nicht durch den real drohenden Ertrinkungstod im Mittelmeer. Wir können nicht mehr so weiter machen wie zuvor.
Kohleninsel
Von Andreas Langfeld haben wir ferner die Serie „Kohleninsel“ aufgenommen. Die Serie zeigt die Kohleninsel im Hafengebiet von Duisburg und die Menschen, die dort arbeiten, aber schließlich auch ihren alten Arbeitsplatz verloren haben. Aktuell entsteht auf der Kohleninsel eine Kohlenumschlaganlage.
“ZufĂĽgung”
So wichtig es ist, sich zu den aktuellen Fragen der Gesellschaftsentwicklung zu positionieren, bleibt es ebenso wichtig auch für andere bestehende und nicht von aktuellen Ereignissen abhängige gesellschaftliche Problemfelder zu sensibilisieren. Die Serie von Heiko Tiemann „Zufügung“ bringt uns Förderschüler und somit aus unterschiedlichen Gründen gehandicapte junge Menschen nahe, die häufig genug am Rande der Gesellschaft leben. Heikos Serie ist eine äußerst sensible Porträtarbeit, die uns die verletzlichen und sicher auch bereits verletzten Persönlichkeiten dieser Personen zeigen. Er klagt nicht an, aber er schafft Nähe und Zuneigung. Vor jedem dieser Jugendlichen möchte man schützend seine Hände halten.
Die Serie ist in den Jahren 2012 bis 2015 an verschiedenen Förderschulen und Einrichtungen für verhaltensauffällige, traumatisierte und lernbehinderte Kinder und Jugendliche in sozialen Brennpunkten Duisburgs entstanden. Für mich sicherlich eine der besten Arbeiten unter den diesjährigen Neuaufnahmen. Von Heiko Tiemann haben wir ferner die Serien: „Identität“ von 1996 und „Innenleben“ 1995 aufgenommen. Innenleben ist in einem Hospitz in Waltrop entstanden, Identität in einer türkischen Familie in Essen-Katernberg, wo der Fotograf einige Monate lebte.
Chargesheimers Serie “Im Ruhrgebiet” aufgenommen
Eine besondere Freude ist es für mich, dass wir in diesem Jahr die wichtige wenn nicht legendäre Fotoserie von Chargesheimer (Karl-Heinz Hargesheimer) „Im Ruhrgebiet“ in das Projekt aufnehmen konnten. Dafür und für das notwendige Vertrauen danke ich dem Rheinischen Bildarchiv Köln und seiner Leiterin Johanna Gummlich-Wagner. Die Serie „Im Ruhrgebiet“ zeigt die gleichnamige Buchpublikation von 1958, die für einen Aufschrei der Ruhrgebietsoberen, allen voran dem damaligen Essener Oberbürgermeister Wilhelm Nieswandt gesorgt hatte, während internationale Medien das Buch hoch lobten.
Mit diesem Buch begann gleichzeitig der Bilderstreit im Ruhrgebiet zwischen Nestbeschmutzung und kritischem Dialog. Und auch wir (Pixelprojekt_Ruhrgebiet) mussten und müssen uns immer wieder diesen Vorwurf gefallen lassen, das Ruhrgebiet nicht zu beschönigen. Die Region ist nicht schön. Sie ist spannend und liebenswert, sie stellt sich den Herausforderungen schwerindustrieller Ballungsräume und meistert multikulturelles Zusammenleben. Aber schön???
Die Ausarbeitungen der neuen Prints ist außerdem völlig anders als z.B. in der letzten Ausstellung im Ruhr Museum und aus meiner Sicht auch wesentlich richtiger. Während sich das Ruhr Museum für „neutrale“ grautonreiche Vergrößerungen entschied, sind die nun vorliegenden Prints wesentlich kontrastreicher und man möchte sagen „chargesheimerartiger“. Aus fotohistorischer Sicht steckt dahinter natürlich auch die grundsätzliche Frage, wie man mit Nachlässen umgeht, wenn der Bildautor nicht mehr lebt. Bei Chargesheimer, der ja einen nahezu unverwechselbaren Stil hatte, finde ich diese Frage eigentlich recht einfach zu beantworten. Hart und kontrastreich.
Chargesheimer hat außerdem 1968 den Kulturpreis der DGPh bekommen und insgesamt 14 Bildbände veröffentlicht.
Bruckhausen 1: “Gewinn soll es tragen”
Ein anderes groĂźes Thema ist auch in diesem Jahr Duisburg-Bruckhausen und der groĂźflächige Abriss von Häusern, Wohnungen und Lebensräumen. Bernd Langmack hat hier in der Zeit von 1990 bis 2015 fotografiert und nennt seine Serie nach einem Brecht Zitat: „Denn nicht zum Wohnen bestimmt ist das Haus…“. Das Zitat endet auĂźerdem mit dem Satz: „nein, Gewinn soll es tragen.“ Bernd zeigt den Abriss der Häuser, der nach und nach das Quartier verändert hat und vor allem auch die betroffenen Menschen. Als er seine Arbeit im Haus der Geschichte, wo sie auf immer noch unbestimmte Zeit in Gänze zu sehen ist, eröffnete, löste er damit eine intensive Diskussion zwischen Stadtplanern, Wirtschaftsförderern, Geschichtlern, Soziologen, Fotografen und anderen aus. Selten habe ich das Potential von guter Fotografie so deutlich in einem Raum gespĂĽrt.
Bruckhausen #2
Auch Annette Jonak hat sich lange mit diesem Stadtteil auseinandergesetzt. Jetzt nehmen wir die Serie „Der Stand der Dinge. Bruckhausen #2 (2011-2015)“ auf. Im Projekt haben wir jedoch bereits die Serie: „Der Stand der Dinge. Bruckhausen“ aus dem Jahr 2005. 2005 schrieb die Fotografin zu ihrer Arbeit: ”Der Stand der Dinge im Augenblick ist Ruhe. Die Ruhe vor dem Sturm, befĂĽrchte ich.”
Und die Realität hat sie eingeholt.
Bruckhausen 3:
Der Dritte im Bunde, der sich in diesem Jahr mit Bruckhausen auseinandergesetzt hat, ist Kurt Heuvens mit seiner Serie: „Heimat in Agonie“. Kurt ist am nahesten an den Bewohnern. Nicht zuletzt deshalb habe ich seine Serie auch unter der Rubrik „Menschen und Soziales“ eingeordnet, während ich die anderen beiden Serien unter „Stadt und Architektur“ verortet habe.
… und noch viel mehr:
Dem „Unionviertel“ (so der Titel) – dem mehr oder weniger neuen Kreativquartier in Duisburg – gibt Eisenhart Keimeyer ein Bild. Eisenhart ist Mitglied im „Projektraum Fotografie“ mitten im Quartier, einem der Hotspots für aktuelle Fotografie in der Region. Diesen betreibt er gemeinsam z.B. mit Projektraumgründer Daniel Sadrowski, der die Serie: „Ruhe nach dem Sturm“ mit den verheerenden Auswirkungen des Pfingststurms Ela zeigt.
Joachim Schumacher hingegen zeigt in seiner Serie: „Die wachsen doch auf jedem Dreck! – Die Birkenwäldchen des Ruhrgebiets“ die Kraft des Pioniergehölzes Birke, die sich auch gerade auf ehemaligen Industrieflächen gerne ansiedelt und schnell kleine Wäldchen entstehen lässt.
Tania Reinicke setzt sich mit ihrer Serie „BILD DES RAUMS“ mit der wundervollen Architektur des sogenannten Sanaa Gebäudes auf der Zeche Zollverein auseinander.
Gemeinsam mit ihrem Mann Ekkehart Bussenius hat sie sich ferner in den Serien „4630“ (die alte Postleitzahl von Bochum) und „4370“ (die alte Postleitzahl von Marl) mit den architektonischen Zukunftsvisionen der 1960er und 1970er Jahre in Westdeutschland – hier konkret dem Marler Stern und der Ruhruni Bochum auseinandergesetzt. Beide Orte sind in die Jahre gekommen, stehen jedoch für ein bestimmtes damals radikal innovatives Zukunftskonzept von Stadt und Lebensraum.
Karsten Faltiski spürt in zwei Arbeiten: „Garagenhöfe der 1950/60er Jahre“ und „Garagenhöfe der 1960/70er Jahre“ einem anderen Phänomen, einem der „kleinen“ Leute, nicht schön aber praktisch und bei genauerer Betrachtung durchaus regionaltypisch nach.
Dieter Schmidt verfolgt mit seiner Arbeit „Im Ruhrgebiet: wohnen und arbeiten“ die typischen Ruhrgebietsstadtlandschaft mit Großbildtechnik und mit architektonischem Blick.
Und schließlich Matthias Gödde, der noch zu Studentenzeiten in den 1980er Jahren das „Typische“ des Ruhrgebietes suchte. Und dann „last but not least“ Roman Zeschky, der der Ruhrgebietspunkband „The Idiots“ ein fotografisches Denkmal schuf.
Ausstellungseröffnung am 16. Juni im Wissenschaftspark Gelsenkirchen
Oder um es kurz zu machen – es lohnt auch in diesem Jahr die Ausstellung der Neuaufnahmen in das Pixelprojekt_Ruhrgebiet im Wissenschaftspark Gelsenkirchen in der Zeit vom 16. Juni bis zum 17. September 2016 zu besuchen. Der Besuch der Ausstellung ist kostenlos und von Montag bis Freitag in der Zeit von 6-19 Uhr und Samstags von 7:30 bis 17 Uhr möglich. Sonn- und Feiertags ist die Ausstellung geschlossen.
Die Eröffnung ist am 16. Juni um 18:30 mit Einführung, Grußwort, Musik und Talkrunde.
www.pixelprojekt-ruhrgebiet.de
Text: Peter Liedtke
Peter Liedtke ist Fotograf sowie Initiator und Organisator von Pixelprojekt_Ruhrgebiet und bild.sprachen. Er gibt für ruhr.speak regelmäßig persönliche Tipps zur Fotowelt (an der Schnittstelle zur Urbanität) im Ruhrgebiet, aber auch anderswo.