Erkennen und Handeln durch Emotionalisierung
Mit 21 neuen Fotoserien haben sich elf weitere Bildautor*innen ihren Platz im regionalen fotografischen Gedächtnis erobert. An der 300 Meter langen Ausstellungswand gibt es drei auffallende Serien: die sind von Stefanie Pluta ‘Tape Studies’, von Amina Falah Pott-á-Porter und ‘Pithead’ von Fatih Kurceren.

Ausstellung Neuaufnahmen Pixelprojekt Ruhrgebiet 2020. Foto: KNSY
Die Schwarzweiß-Fotos von Stefanie Pluta, aufgenommen im Hauptbahnhof Duisburg, dokumentieren den provisorisch-dauerhaften Einsatz von Klebeband im öffentlichen Raum. Im Klartext, Gaffatape rettet die mutwillig oder durch Erschütterungen beschädigten Mattglasscheiben vor dem endgültigen Herausbrechen. Das sieht durch Plutas Blick sehr dekorativ-abstrakt aus: ja, die geklebten Scheiben sind durchaus Readymades mit künstlerischen Anspruch.
Amina Falah interessiert die Mode und das LebensgefĂĽhl junger Menschen im Ruhrgebiet und wählt fĂĽr ihre Serie den rustikalen Kalauer Pott-á-Porter. Optik, Licht und Posen kennt der Betrachter aus einschlägigen Jugendkultur- und Modefanzines oder dem Magazin der SĂĽddeutschen Zeitung. Egal: ihre Fotos der ‘ugly chic Kultur’ sind ganz im hier und heute verankert. Gut so. Frische Bilder fĂĽrs Pixelprojekt_Ruhrgebiet.
Die Pitheads von Fatih Kurceren – junge und jugendliche ‘Zechenköpfe’ werden laut Tobias Zielony „nicht als bloĂźe Opfer sozialer MiĂźstände, sondern als Akteure ihrer eigenen LebensentwĂĽrfe“ präsentiert. In der Tat, auch diese Serie wirkt wie neues Spenderblut fĂĽrs P_R. Kenner sehen in Kurcerens Bildsprache stets den Einfluss seines Förderers Zielony – bestimmt wird sich der in Bursa/TĂĽrkei geborene Oberhausener Fotograf irgendwann von der Zielony-esken Bildsprache emanzipieren. Das Plakatmotiv zur Ausstellung stammt ĂĽbrigens von Kurceren, der auch mit mehreren Bildern in der DĂĽsseldorfer Fotoausstellung SUBJEKT und OBJEKT. FOTO RHEIN RUHR vertreten war.

Foto: KNSY
Gefallen haben die aktuelle Reportage von Allan Schmidt „Ende Gelände – Besetzung des Kohlekraftwerks 4“ in stimmigem Licht und reduzierter Farbgebung. Echte Menschen und ansteckendes Lachen sehe ich gerne: so wie in Claudia Thoelens SchwarzweiĂź-Bilderstrecke ‘Da Silva – eine portugiesische Migrantenfamilie’ – sie ist jedoch 38 Jahre alt. Und vor 35 Jahren fotografierte Jochen Eckel seine sw-Serie Kokerei Zollverein. Brigitte Kraemers Auf der Schwelle – Leben im Frauenhaus von 2013/14 ist empathisch fotografiert und berĂĽhrt ob ihres tragischen Themas.
Bizarr die Doppelhaushälften, die Wolfgang Fröhling vergangenes Jahr im Ruhrgebiet entdeckt hat: Einige Frontansichten sind derart schaurig geraten, dass man ihre Bewohner lieber nicht kennenlernen will. Blick fĂĽr Kurioses beweist Janosch Rauter mit rebuild.ing Hochheide SUPPLEMENT, 2019: bei der AufschĂĽttung des Schutzwalls zur Vorbereitung der Sprengung des ersten „WeiĂźen Riesens“ in Duisburg-Hochheide wurden aus dem Erdreich Findlinge und kleinere Geschiebe an die Oberfläche befördert. Rauters Serie zeigt ‘die erratischen Blöcke, die sich einst vom Ort ihrer Entstehung durch eine Gletscherschmelze ĂĽber weite Distanzen dorthin verirrt haben, an ihrem kurzfristigen Ablagerungsort’.
Sehenswert die Fernwärmerohrleitungen „Das Rohrgebiet“ von Hendrik Lietmann (von 1978-85), die Innenansichten aus dem Rathaus Kamp-Lintfort von Karl Banski und die Aufnahmen von Edwin Rach, die an die Tragödie der Loveparade 2010 erinnern. Aber Bernd Arnold hat schon begeisterter fotografiert als diese seine Schiffstour-Bildstrecke auf der Ruhr von Mülheim nach Kettwig von 1986.

Foto: KNSY
Spannend die Story, wie sich Robert Freise die Erlaubnis erkämpfte, die letzte deutsche Boxbude und ihre Akteure 2017/18 auf der Cranger Kirmes zu fotografieren: Er mußte erst Inhaber Charly Schulz im Schach besiegen. Bei seinen Bildern vermisse ich aber Schweiß und Tränen, die Faszination und Magie des Boxsports muss ich suchen.
Komplettiert wird der Bilderreigen von Werner Freises (*1927) Industriemotiven aus Bochum, Essen und Oberhausen aus den 1950er Jahren und Haiko Hebigs Langzeitbeobachtung (2010-20) zum HĂĽttenwerk der Dortmunder Union und den angrenzenden Wohngebieten. Das von 1856 bis 2015 betriebene Werk war nicht nur der erste vertikal integrierte Montankonzern Deutschlands, sondern nach dem Zweiten Weltkrieg in Form der Dortmund-Hörder HĂĽttenunion DHHU auch größter Stahlproduzent des Landes. Und Michael Schulz untersucht mit When Coal Left Town 2020 den ‘derzeitigen Status der verbleibenden FördertĂĽrme in im Ruhrgebiet nachdem die Steinkohleförderung endgĂĽltig eingestellt ist’.
Benito Barajas setzt die ‘Brautmeile Duisburg-Marxloh’ bestechend in Szene. Nirgendwo sonst in Europa gibt es so viele tĂĽrkische Brautmodengeschäfte auf engstem Raum, Schaufenster voller Kleider, Smokings, Ringe und Hochzeitstorten.

Foto: KNSY
Fazit: Acht ‘neue Serien’ sind der Vergangenheit gewidmet und neun den Jahren 2018-20. Historie ist wichtig, Aktualität ein Muss und Ausblicke in die Zukunft wĂĽnschenswert. Aber wo bitte bleiben die im Wortsinne aufblitzenden, grellen, ĂĽberraschenden, verblĂĽffenden Bilderserien von auch nicht professionellen Fotog*nnen, gerne auch nur mit smartphone erstellt? Die mĂĽssen gesucht und gefunden werden, um das Pixelprojekt_Pixelprojekt weiterhin innovativ, unvorhersehbar, spannend und zukunftsfähig zu machen.
2003 wurde das Pixelprojekt_Ruhrgebiet als freies Projekt in den Händen der Bildautor*innen jenseits von Wissens- und Informationsmonopolisten gegründet. „Jenseits von kommerziellen Verwertungsinteressen, auch jenseits von Information oder Bildung geht es in dem Projekt um Erkenntnis durch Erkennen, und Handeln durch Emotionalisierung“, sagt Peter Liedtke, unermüdlicher Initiator und Motor des Pixelprojekt_Ruhrgebiet.
Auf der Website von pixelprojekt-ruhrgebiet.de sind sämtliche Neuaufnahmen – und noch viel mehr – zu sehen.
Das Pixelprojekt_Ruhrgebiet wird unterstützt von der Brost Stiftung, dem Regionalverband Ruhr, dem Ruhr Museum, dem Wissenschaftspark Gelsenkirchen, der Sparkasse Gelsenkirchen, der Stadt Gelsenkirchen, dem Förderverein Pixelprojekt_Ruhrgebiet, dem werkbund und der Deutschen Gesellschaft für Photographie DGPh.
Das Projekt wurde mit Mitteln des Kulturministeriums NRW aufgebaut.
Noch bis 13. November 2020
Wissenschaftspark Gelsenkirchen
MunscheidstraĂźe 14
45886 Gelsenkirchen
Text: Hartmut BĂĽhler, Fotograf
Ausstellungsfotos: KNSY.de

Foto: Pixelprojekt

Foto: KNSY