Fünf Ladenlokale im Einkaufszentrum Rathaus Galerie in der Essener Innenstadt und die Folkwang Galerie in der Verteilerebene des dazu gehörenden ÖPNV-Bahnhofs bilden derzeit „Räume für Fotografie“. Zu sehen sind die Abschlussarbeiten 2013 von 22 Absolventen und Absolventinnen des Studienganges Fotografie der Folkwang Universität der Künste. Offen gestanden: Der kalte Charme der Rathaus Galerie wirkt nicht eben prickelnd für Pics.
Vom Besucher wird Lauffreudigkeit erwartet: Wer alle Fotoarbeiten sehen will, der muss sich die Locations in der Rathaus Galerie und die Folkwang Galerie tatsächlich „ergehen“ – und sich gegen die Konsumenten behaupten und die Werbefoto-Klischeeflut ausblenden. Von den jungen Fotografen mit ihren meist „stillen“ Abschlussarbeiten wird ebenso Durchhaltewillen pur und viel Optimismus gefordert.
Blick in den Ausstellungsraum “Folkwang Galerie” in der Verteilerebene. Zu sehen ist Heike Kandalowskis Arbeit “Villa Neapolis”, eine ortsbezogene Installation von Bildern und Objekten. Foto: Hartmut S. Bühler
Wen wollen die Studierenden mit ihren Bildern und Videoarbeiten erreichen?
Ein Wegweiser durch die Denk- und Geisteswelten der 22 LichtbildnerInnen – erstmals haben neben dem tradierten und auslaufenden Diplomstudiengang auch Bachelor-Studierende ihr Studium an Folkwang abgeschlossen – ist dabei die Oktober-Ausgabe der Zeitschrift DEKAMIRED. Sie liegt in den sechs Locations parat. Die Abschlussarbeiten des Masterstudienprogramms werden demnächst in DEKAMIREDpräsentiert.
Bachelor oder Diplom?
Interessant im Zusammenhang „Umstellung von Diplom und Magister auf Bachelor und Master“ ist der Artikel der Süddeutschen Zeitung „Druck auf die letzten ihrer Art” vom 14. Okotber 2013. Laut SZ halten „Kritiker den Bachelor für ein Schmalspurstudium. In vielen Fächern ist der Berufseinstieg mit dem Bachelor ohnehin unmöglich; ein Master muss auf jeden Fall angehängt werden“.
Allerdings: Auch auf den zweiten Blick sieht der Rezensent keinen Unterschied im Qualitätsniveau zwischen Bachelors und Diplomierten in der Essener Präsentation.
Zum selber Anschauen: Auswahl von Abschlussarbeiten auf der Website der Folkwang Hochschule
Augenscheinlicher ist ein Blick auf die präsentierten Bücher in Raum Nummer eins. Hier fällt ein großformatiges Buch mit konkreter Thematik auf:
HY/BZ von Bachelor Lars Hering
HY/BZ von Bachelor Lars Hering über die einstmals 70.000 Einwohner-Stadt Hoyerswerda, von denen 30.000 im Kombinat zur Kohleveredelung beschäftigt waren.
Nach dem Mauerfall war das Kombinat nicht mehr konkurrenzfähig und wurde an Vattenfall verkauft. Dieser Konzern „fuhr“ die Zahl der Beschäftigten auf nur 2.500 herunter. Viele Menschen verließen und verlassen noch immer die Stadt, so dass Hoyerswerda heute nur etwas mehr als 20.000 Einwohner zählt. Sogar das frühere eigene Kfz-Kennzeichen HY wurde „eingebüßt“ – an das benachbarte 40.000 Einwohner zählende Bautzen (= BZ; der Landkreis Bautzen zählt 310.000 Bewohner).
Hering interessierte „der Identitätswechsel, der sich in HY vollzieht und was es bedeutet, dort gerade zu wohnen. Zehn Wochen lang lebte er in Hoyerswerda, um seine Bilder „mit einer Knipse“ zu erstellen. Bewusst und in Absprache mit seiner Professorin wurde auf jeden Hinweis auf die Ausschreitungen von 1992 verzichtet. Das Buch gibt es in einer Auflage von zehn Exemplaren, Preis pro Buch: wenigstens 200 Euro.
Fotobuch “HY/BZ” von Lars Hering
„Hallig“ von Johannes Nadeno
Apropos Bücher in Raum 1: „Hallig“ von Johannes Nadeno, Diplom. Zugegeben wunderbar im Wandel eines Jahres fotografiert – jedoch mit 135 Fotos fast zu viele Bilder für die kleine Insel Langeneß; sie ist von den zehn Halligen noch das größte Eiland. Und mir als Portraitfotografen sind darin nur vier Menschenbilder zu wenig.
Fotobuch „Hallig“ von Johannes Nadeno
„Charleroi“ von Sabine Niggemann
Charleroi“ von Bachelor Sabine Niggemann über die wallonische Stadt: “ Meine Eindrücke der unterschiedlichen Begebenheiten der Stadtlandschaft Charlerois… in einer künstlerisch dokumentarischen Bildserie festzuhalten. … Da sich dieses Ziel erst über eine Vielzahl von Bildern erschließen läßt, habe ich das Buch als Präsentationsform gewählt.“
Fotobuch „Charleroi“ von Sabine Niggemann
„Wir treffen uns bei Sol“ von Nina Gschlößl
Bachelor Nina Gschlößl reiste für ihr Buch „Wir treffen uns bei Sol“ nach Spanien. „Meine Arbeit ist ein Blick auf Städte und Menschen eines Landes, welches dem meinen so ähnlich schien und nun doch so anders ist.“ Sie fotografierte ein Land und seine junge Menschen, geprägt von hoher Arbeitslosigkeit und tiefgreifender Wirtschaftskrise.
Fotobuch „Wir treffen uns bei Sol“ von Nina Gschlößl
„Ich bin gut angekommen“ von Natalie Richter
Bachelor Natalie Richter reiste für ihr Buch „Ich bin gut angekommen“ in die Welt ihrer Eltern und Großeltern nach Unna. Richter: “Letztlich geht es hier aber nicht um den reinen Vergleich von Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch um die Frage, inwiefern private Bilder Teil des kulturellen Gedächtnisses sind und allgemeingültige Aussagen über unsere gemeinsame Geschichte enthalten.“
Fotobuch „Ich bin gut angekommen“ von Natalie Richter
„Baroque Staring“ von Meike Griffith
Auffallend „Baroque Staring“ von Bachelor Meike Griffith: „Das Groteske, das Wundersame, das Andere war schon immer eine meiner größten Leidenschaften. In meiner Freizeit habe ich viel zu diesem Thema recherchiert und gelesen. In meinem Abschlussprojekt wollte ich dieses Themengebiet mit meiner gestalterischen Arbeit verbinden. Dadurch ist eine Buchgestaltung entstanden, die als eine Art ‘Atlas des Grotesken’ dient. In dem Buch sind 109 Orte, Dinge, sowie auch Menschen zu finden, welche man als ‘grotesk’ oder ‘wundersam’ ansehen würde. Ziel dieser Arbeit ist es, auf eine unterhaltsame Weise eine Seite der Welt aufzuzeigen, die uns aufgrund ihrer Andersartigkeit reizt und fasziniert.“
„Baroque Staring“ von Meike Griffith
Rauminstallationen von Thomas Reul
Die pure fotografische Position verlassen hat Thomas Reul mit seinen Rauminstallationen – „heiße Luft“, „Lichtblase“ und „Lichtkreis“ – zum Thema „Die Welt als Konzentration rückkoppelnder Empfindungen“ (Raum 1, 2 und 5). Bachelor Reul: „Die Wahrnehmung kann keine andere Form annehmen als der Prozess ihrer Entstehung. Es geht nicht mehr darum, den flüchtigen Anschein der Welt registrierend fest zu halten, sondern sich der Instabilität der Wahrnehmung selbst zu stellen. Ein Ort im Raum. Ein Punkt in der Zeit.“
Installation “Lichtkreis” von Thomas Reul
Sieben Namen von 22 und ihre Werke. Was auffällt: viele Abschlussarbeiten wirken allzu durchgeistigt, sensibel, unaufgeregt – kurz: zaghaft.
Rauminstallationen von Christian Kasner
Vielleicht passen zu dieser Zaghaftigkeit Christian Kasners Arbeiten zum Thema „What is not but could be if“. Der Bachelor machte sich Gedanken zur bereits 1985 aufgestellten These von Informatik-Professor Dr. Wolfgang Coy, dass „die Erfahrungswelt des postmodernen Menschen längst überwiegend aus mittelbarer und nur noch zu einem geringen Teil aus unmittelbarer Wahrnehmung und Erfahrung besteht“.
Fotobuch “What is not but could be if” von Christian Kasner
Noch ein Gedanke:
…“Wie die Kunst ist die Fotografie in Deutschland Opfer einer Ausbildung geworden, die geschichtliche Überlieferung nicht als Herausforderung, sondern als Hindernis für schöpferische Initiativen begreift. Geschichte wurde durch Theorie ersetzt. Nicht verwunderlich angesichts einer Gesellschaft, die ihre Geschichte in dem Maße, wie sie ihr entschwindet, an Denk- und Mahnmale delegiert.“
Auszug aus Prof. Klaus Honnefs Beitrag „Herausforderung oder Hindernis? – Über den Stellenwert der Tradition in der gegenwärtigen Fotografie“ für die „KUNSTZEITUNG“, Oktober 2013
Text und Ausstellungsfotos: Hartmut S. Bühler
Räume für Fotografie
noch bis 9. November
Rathaus Galerie Essen
Porscheplatz 2
45127 Essen
ÖPNV: Haltestelle Rathaus
Öffnungszeiten:
donnerstags und freitags von 15 bis 20 Uhr
samstags von 10 bis 20 Uhr
verkaufsoffener Sonntag, 27. Oktober von 13 bis 18 Uhr
Folkwang Galerie im U-Bahnhof
in der Verteilerebene
ganztägig