China in Duisburg, Abriss in Dortmund und RĂŒckabwicklung in Europa – der Streifzug der Woche #3 vom 30. Juli 2019
Mangels passender Masse bleibt das Ruhrgebiet bisher davon verschont, europaweit prĂ€gende Wirkung entfaltet sie trotzdem: die Neuerrichtung nicht mehr vorhandener GebĂ€ude aus vordemokratischen Zeiten, “die stadtrĂ€umliche Herstellung anachronistischer Gesellschaftsordnungen” mittels Beton – kurz: die Rekonstruktion. Was da wer eigentlich wiederhergestellt, ausgeblendet, umgedeutet und rĂŒckabgewickelt sehen will, und was das mit den BĂŒrgern macht, die in ihrem Alltag mit solchen Bauten konfrontiert werden, ist die groĂe Frage. Dabei ist der revanchistische Kern des Programms unĂŒbersehbar: nach Jahrzehnten Vorarbeit ist es mittlerweile in Deutschland nicht nur möglich, ausgerechnet auf einem Walter-Benjamin-Platz ein Zitat des Faschisten Ezra Pound in Stein zu meiĂeln, sondern auch Ikonen des Wiederaufbaus wie die Frankfurter Paulskirche von 1948 und das Mosaik des Phönix aus der Asche auf die Abrissliste zu setzen. Die von der Rechten geforderte “erinnerungspolitische Wende um 180 Grad” sei in Dresden “bereits vollzogen“, diagnostiziert Stefan TrĂŒby, Initiator des Projekts Rechte RĂ€ume. So gewiss scheint das “Nie wieder” plötzlich nicht mehr zu sein: “In ihrem Triumphzug fĂŒhrt die Neue Rechte als Beute die Baukultur als identitĂ€tspolitisches Programm mit. Damit dringt sie tief in die bĂŒrgerliche Mitte ein, schlieĂlich ist niemand gleich rechts, nur weil er oder sie Rekonstruktionen schön findet.” Umfangreiche Beleuchtung des Themas anhand einer Europareise von Rom nach Berlin auf den 240 wie immer dicht befĂŒllten Seiten der aktuellen ARCHplus-Ausgabe.
Was das Ruhrgebiet sehr betrifft: die Belt and Road Initiative, besser bekannt als Neue SeidenstraĂe, auch eine Rekonstruktion. An das InfraÂstrukturÂprojekt sind mittlerweile mehr als 125 LĂ€nder angeschlossen, bilaterale Abkommen mit einem EU-Mitglied inclusive, und Duisburg ist Endpunkt einer direkten Bahnverbindung mit China: 12.000 Kilometer, 35 ZĂŒge pro Woche, voll hin, weniger voll zurĂŒck, 14 Tage Fahrzeit, Ziel 10 Tage. Welche Auswirkungen das Aufeinandertreffen der Systeme der strategischen staatlichen Investition und der privatisierten Gewinnabschöpfung an den Schnittstellen hat, zeigt das Beispiel PirĂ€us – der wichtigste griechische Hafen steht nach Druck der EU unter chinesischer Verwaltung: “Wenn wir das Feld anderen ĂŒberlassen, werden wir wirklich unschöne Zeiten erleben.” Unser Titelbild aus dem Pixelprojekt Ruhrgebiet dazu: Menschen im Hafen Duisburg 1997 von Regina Minwegen. Weitere Fotoserien: Davide Monteleone: A New Silk Road, Natacha de Mahieu: Far West China.
An der Ruhr auch nicht unbekannt: Stilllegung, Schrumpfung, Abriss. Am Tor des Dortmunder HĂŒttenwerks Union hĂ€ngt neuerdings zwischen den groĂen Transparenten des Abrissunternehmens ein kleines Schild, vielleicht A4: “Ehemaliges Stahlwerk “Dortmunder Union”, in dem tausende Menschen Arbeit fanden. Mit einer sehr bewegten Geschichte, vielen Inhaber- und NamensÂwechseln, herausragende Produkten auf einer FlĂ€che von 45 Ha (63 FuĂballfelder) und der letzten Schicht kurz vor Weihnachten 2015.” Dazu ein Luftbild der Anlage fast in Vollausbau: Hochofenwerk, Stahlwerke, Schmiede, Walzwerke und BrĂŒckenbau, alles direkt am Hauptbahnhof. Das kleine Schild wird vielen, die es entdecken, erstmals ermöglichen, Funktion und AusmaĂ dieses Werks zu rekonstruieren, wenn nicht sogar seiner Existenz bewusst zu werden, das zwar nach dem Krieg das gröĂte des Landes war, nach den Fusionen mit Hörde und Hoesch aber zum Stiefkind des Konzerns wurde und in der öffentlichen Wahrnehmung trotz der prominenten Lage kaum vorkommt. Warmgewalzt wurde hier trotzdem noch, als die anderen Standorte schon abgewickelt waren. Manchmal sind die kleinen Zeichen die schönsten (und wirksamsten).
Und sonst? Computational Photography – From Selfies to Black Holes – allgemeinverstĂ€ndliche Ăbersicht ĂŒber aktuelle Aufnahmeverfahren. Spoiler: Handys verrechnen Fotos, die vor DrĂŒcken des Auslösers aufgenommen wurden, Schwarze Löcher fotografiert man mittels Visualisierung von Messwerten, weshalb der Autor der zugehörigen Software von, genau, Rekonstruktion statt Aufnahme eines Bildes spricht: es gibt beliebig viele Bilder, die auf die Messwerte passen, und die Frage ist, welches man nimmt. Ist am Ende alles eine Rekonstruktion? // Unraveling the JPG. // Leute, die alte Filme anderer Leute entwickeln.
Text: Haiko Hebig
Titelbild: Menschen im Hafen, Duisburg 1997, Regina Minwegen