Mehr als Nachbarn
‘Wirklich schöne Bilder dabei, aber ich dachte, da kommt mehr’ schrieb Till E. (10) ins Gästebuch zur Ausstellung Mustafas Traum. Aber es gibt auch Wertungen wie diese: ‘Danke für diese tolle Möglichkeit und die Fotos, die eigene Familiengeschichte so zu sehen und zu erleben, ist etwas besonderes und eine große Ehre. Danke an Henning Christoph und meinen Opa Seyfi Sakin, die uns das ermöglicht haben,’ so Yasemin Aljaber.

‘Schützen’; Duisburg-Bruckhausen, Oktober 1985.
Christophs Bilder folgen nahtlos der Ausstellung “Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990. Fotografien von Ergun Çağatay” im selben Museum, die am 31. Oktober endete.
(Besprechung der Ausstellung auf ruhr.speak hier)
Das Spektrum der Christoph Langzeit-Fotodokumentation zu den Themen Migration und Ruhrgebiet zeigt türkisches Leben in zahlreichen Facetten. Familien- und Alltagsszenen, Arbeitsplatzmotive, Feste und Tänze, Vermählungen, Koranschule, Karneval, Politik, Rituale, Urlaub, Sport und Sünnet Düğün, eine Beschneidungs-Hochzeit: so nennen Moslems die Beschneidung der Jungen.
Speziell dieses Fest wird traditionell im erweiterten Kreis der Familie und Freunde gefeiert. Schon ihre Bezeichnung Sünnet Düğün – wörtlich Beschneidungs-Hochzeit- impliziert, wie wichtig diese Feier für manche Muslime ist. Oft werden auch Räumlichkeiten dafür angemietet, um die vielen geladenen Gäste zu empfangen.

Bayram und Mustafa Aydin nach ihrer Beschneidung; Essen-Altendorf, 2. Juli 1977.
Das wohl emotionalste Foto der 150 Bilder ist wohl dieses, das der Schau seinen Namen gibt. ‘Mustafas Traum’ zeigt den 1997 verstorbenen und gelernten Tischler Mustafa Aydin, der 1962 nach Deutschland kam, um Geld zu verdienen. Sein Lebenstraum war der Kauf eines Sägewerks in der türkischen Heimat.
Diese Wunschvorstellung offenbarte er 1978 dem Fotografen in einer eigenhändig gezimmerten Holzlaube im Hinterhof seiner Wohnung in Essen-Altendorf, in der er ein Miniaturmodell des Sägewerks mit dem dazugehörigen Wunschhaus aus Lego-Bausteinen aufbewahrte.

Freunde_ Mustafa Aydin. Henning Christoph und Seyfi Sakin; Essen, Dezember 1977.
Neben der Familie Aydin, die einen Schwerpunkt der Ausstellung bildet, ist es die Familie Sakin, die 1977 ins gleiche Haus zog, in der Henning Christoph mit seiner damaligen Ehefrau Shawn lebte. Familie Sakin war es denn auch, die Christoph und seiner Kamera mit ihren Kontakten die Türen ins türkische Leben öffneten. Aber wie so oft ging der Funke aus von einem Kind. Es war Sema, eine Tochter der Sakins, die mit ihrem Charme und ihrer Neugier aus der türkisch-deutschen Nachbarschaft damals in der Sybelstraße in Essen-Frohnhausen eine Freundschaft entstehen ließ.
Ein Höhepunkt der Schau ist die komplette Präsentation der Gesellschafts-Reportage Die ‘getürkten Deutschen’ – Die deutschen Türken. Unsere Nachbarn aus der Röntgenstraße in Essen-West’ im Geo-Magazin 04/1979, zu dem Christophs damalige Ehefrau Shawn, eine renommierte Journalistin, den Text geschrieben hat.#
Diese Zeilen im Gästebuch bringen die Relevanz der Christoph Fotos auf den Punkt: Fand die Ausstellung sehr gelungen, was die Nähe zu den Türken in Deutschland angeht. Ich habe mich allein durch die Bilder ein Stück den Türken angenähert. Auch wenn sie ihre andere Kultur haben, so gehören sie zu uns als gemeinsames Volk.
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang: das erste Foto seines Lebens mit türkischem Bezug machte Christoph im Alter von 16 im Jahr 1960 ausgerechnet in den USA, wo ihm eine Szene am Rande eines Fußballspiels Italien gegen die Türkei so gut gelang, dass es die Washington Daily News für 25 Dollar abkaufte und auf ihrer Seite eins abdruckte.

Christophs Bilder sind wie ein Brückenschlag deutsch-türkischer Freundschaft.
Der von Heinrich Theodor Grütter und Stefanie Grebe herausgegebene Katalog „Mustafas Traum von Henning Christoph“ präsentiert mehr als 150 Schwarzweiß- und Farbfotografien, die die Freundschaften des Fotografen sowie seine Teilnahme am türkischen Alltag abbilden. Christoph (geboren 1944 in Grimma, die Jugendjahre verbringt er in den USA), mehrfacher World Press Photo-Preisträger, fotografierte das Leben von Arbeitsmigrant*innen in Deutschland mit Schwerpunkt im Ruhrgebiet.
Mit den Bildern zum Alltagsleben, einem Gespräch mit Henning Christoph und einem Abdruck der GEO-Reportage “Die deutschen Türken” (von 1979) liegt mit diesem Katalog die erste Monografie des Fotografen zum Thema türkische Migration vor.

Türkisches Leben 1977 – 89 in Deutschland, mit dem Fokus aufs Ruhrgebiet.
Lesenswert auch die Erinnerungen Christophs an seinen Lehrer Otto Steinert, die frühen analogen Jahre als Fotograf und Fotoredakteur an der University of Maryland in den USA und die Abenteuer im Nordirland-Konflikt in den 1970er Jahren.
Förderer: Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung
Ruhr Museum
Gelsenkirchener Straße 181
45309 Essen
Ausstellungsfotos: Christoph Kniel
Text: @hartmut.buehler.fotografie
Henning Christophs Fotoserien “Türken im Ruhrgebiet / SW” und
“Türken im Ruhrgebiet / Farbe” wurden 2009 in Pixelprojekt_Ruhrgebiet aufgenommen.

Freude über die Teilnahme am ersten türkischen Arbeiterkongress in der Bundesrepublik Deutschland; in der alten Mensa der Universitätsklinik Düsseldorf, 27. Februar 1977.

Mustafas Traum und die Realität – zu sehen auf der 21-Meter-Ebene im Ruhrmuseum Essen.