Einbildung oder Wirklichkeit? Beim Betrachten der Werkschau “The Octopus” verspüre ich ein Kribbeln. Wie ein potentieller Gesetzesbrecher fühle ich mich belauert von den Videokameras im Frankfurter Kunstverein, fast so als müsste ich ein schlechtes Gewissen haben, die Bilder von Trevor Paglen zu begutachten.
Seit vielen Jahren beobachtet Paglen (er ist Kulturpreisträger 2015 der Deutschen Gesellschaft für Photographie, DGPh), wie sich die Vereinigten Staaten von Amerika mehr und mehr in einen Überwachungsstaat verwandelt. Jeder Fußgänger kann gescannt, jede Autofahrt von der Polizei gefilmt werden.
Der Frankfurter Kunstverein, Trevor Paglen und das Journal Frankfurt riefen auf, Landschaften der Überwachung zu fotografieren. Dieter Schwer war in Frankfurt/Main unterwegs, wählte mit seinem Smartphone die Webcams des Straßenverkehrsamtes an und erstellte Selfies.
Zu Paglens Kunst gehört akribische Recherche. Jahrelang sucht er im Netz oder in Gerichtsprotokollen nach Details aus der „Black World“ der Geheimdienstapparate. Fotokünstler Paglen: “Die US-Regierung und ihre Geheimdienste haben aus dem Internet eine Waffe gemacht. Terrorismus kann unsere Nation nicht völlig außer Gefecht setzen, aber die Überwachungsmaßnahmen können das. Gezielt eingesetzt kann aus einem demokratischen Staat ein totalitäres Regime werden.”
Seine investigative Konzeptkunst – “sie soll mir helfen, die Welt zu verstehen” – macht sichtbar, was niemand wahrhaben will: wie wir Tag und Nacht von NSA und Co. bespitzelt und abgehört werden. TP: “Ich leide nicht unter Paranoia oder Verfolgungswahn, die Überwachung ist Realität.”
Mittels modernster Software und seiner betagten Großformatkamera sowie langbrennweitigen Optiken, die sonst nur Astronomen benutzen, versucht er, die verborgene Welt der Geheimdienste sichtbar zu machen. TP verleiht den Geheimnisenthüllungen Edward Snowdens so etwas wie ein Gesicht.
They Watch the Moon, 2010 C-print 91×122 cm Courtesy Galerie Thomas Zander, Köln
Paglens Arbeiten sind nicht nur politisch höchst relevant, wenn er durch seine Recherchen und Bilder z.B. geheime Militärbasen aufdeckt und die verborgenen Transportwege mutmaßlicher Terroristen in versteckte Foltergefängnisse nachzeichnet. Mit seinen häufig unscharfen oder abstrakten Photographien von geheimen Flugplätzen, Spionage-Drohnen, Geheimgefängnissen oder Überwachungssatelliten stellt er zugleich die Evidenzleistungen des Mediums Photographie in Frage. Er zeigt, dass trotz detaillierter Recherchen und der Zusammenarbeit mit Journalisten, Aktivisten, Informatikern, Ingenieuren und Astronomen keine letztendlichen Gewissheiten zu erlangen sind.
Was ist ein Beweis? Warum glauben wir Bildern und welcher Art von Bildern? Welche Indizien und Evidenzen brauchen wir, um politische und gesellschaftliche Konsequenzen aus zunehmend unkontrollierbaren “Sicherheitssystemen” zu ziehen? Übrigens: es soll noch immer Menschen geben, die trotz umfassender Überwachung (z. B. Mobiltelefon-, Kreditkarten-, Tankstellen-Ortungen) behaupten: “Ich hab’ nichts zu verbergen.”
Motiv aus der Serie Everyday Landscape: Sportsflight Airways, Richmoir Aviation, Dyncorp, CIA 1996-2006 Courtesy Galerie Thomas Zander, Köln; Pigmentdruck 28×38 cm
Trevor Paglen wurde 1974 in Maryland/USA geboren und absolvierte das Art Institute of Chicago bevor er an der University of California, Berkeley, 2008 in Geographie promovierte. Seine Arbeiten wurden unter anderem im Metropolitan Museum of Art in New York, der Tate Modern in London, der Wiener Sezession, dem Haus der Kunst in München oder im Kunstmuseum Bonn gezeigt.
Paglen ist als Fotograf auch Voyeur. Im Grunde treibt er diesen überstrapazierten Begriff als Beobachter der Beobachter in fast astronomische Höhen. Zusätzlich ist die Relevanz von Eagle-Eye Paglens Werk für die Gesamtgesellschaft ungeheuerlich. Dass dabei die Ästhetik seiner Bilder wunderbar poetisch ausfällt – keinesfalls “gefährlich”, ist eine Ironie der bitteren Realität.
“The Octopus” – monographische Ausstellung von Trevor Paglen
Noch bis 30. August
Frankfurter Kunstverein
Markt 44
Frankfurt am Main
Öffnungszeiten:
Di, Mi, Fr: 11 – 19 Uhr
Do: 11 – 21 Uhr
Sa, So: 10 – 19 Uhr
Bedauerlich: während meines Museumbesuchs lagen keine Paglen-Bücher zum Kauf parat.
Übrigens: Frankfurt gilt als grösster „Internetknoten“ weltweit. Fast der gesamte deutsche und ein Großteil des europäischen Datenverkehrs wird über Server im Frankfurter Stadtgebiet abgewickelt. Direkt bei Frankfurt liegt der Dagger Complex, Sitz mehrerer US Spionage-Einheiten. 26 km Luftlinie entfernt befindet sich Darmstadt – die Netzzentrale der Telekom. So ist denn Frankfurt/Main der perfekte Ausstellungsort für Paglens Photos in Europa.
Text: Hartmut Bühler, Fotograf, Düsseldorf
Keyhole12-3 (Improved Crystal) Optical Reconnaissance Satellite Near Scorpio (USA 129), 2007 C-print 150×121 cm Courtesy Privatsammlung Dreieich
NSA-Tapped Fiber Optic Cable Landing Site, Nordsee Deutschland, 2015 C-print 122×152 cm Courtesy Galerie Thomas Zander, Köln
Untitled (Reaper Drone), 2010 C-print 122×152 cm Courtesy Galerie Thomas Zander, Köln
fkv.de/de/content/trevor-paglen-octopus
de.wikipedia.org/wiki/Trevor_Paglen
paglen.com/?!=news
spiegel.de/kultur/gesellschaft/trevor-paglen-ausstellung-the-octopus-im-frankfurter-kunstverein-a-1039698.html
dgph.de/startseite/trevor-paglen-der-beobachter-der-beobachter-nahm-frankfurt-den-dgph-kulturpreis-2015
Video → kontur-medien.de/project/trevor-paglen-fotografiert-die-nsa/
Portrait Paglen
Foto: Art21