Im Fotokaraoke von Dieter Zinn geht es um die Wahrnehmungen der inneren und Ă€uĂeren Bilder, die unser Leben bestimmen. Es geht um Selbstbilder, Fremdbilder, Sinnbilder, Vorbilder: Wir sehen, fĂŒhlen und denken in den Sprachen der Bilder. Die Bilder im Kopf prĂ€gen das Selbstbild eines Menschen. Ihre Summe bildet ab, was in uns gleich bleibt: die IdentitĂ€t. In kurzen, konzentrierten Ăberlegungen, verbunden mit
persönlichen Assoziationen, wird der Blick im Fotokaraoke auf alltÀgliche, fiktive und verborgene Bildwelten gerichtet.
Unterscheidungen zwischen Erinnerungen und Vergessen bestehen in dem «So war es gewesen» und dem «So habe ich es in Erinnerung.» Es gibt kein ZurĂŒck. Was immer wir tun, um Erinnerungen zu aktivieren, wir erinnern uns aus dem Zustand der Gegenwart, die geprĂ€gt ist von den Erfahrungen eines ganzen Lebens. Die gerne zitierte Lebensgeschichte besteht aus den Geschichten eines Lebens, weil es das «Leben an sich» nicht gibt, sondern Lebenssituationen, in denen wir uns im Moment befinden. Es gehört zur menschlichen Natur, das Puzzle der Erinnerungen in der NacherzĂ€hlung seines Lebens so einzuordnen, dass die Lebensgeschichte in der RĂŒckschau stimmig, schicksalhaft oder gar heroisch erscheint. Denn wer will schon in seinen Erinnerungen ĂŒber LĂŒgen, Hass, Verrat, Untreue, Betrug, DemĂŒtigung, Verzweiflung reden? DafĂŒr sind Dichter, Denker und KĂŒnstler zustĂ€ndig, doch selbst ihre Werke bleiben nachempfundene GefĂŒhle und Geschichten. Der Illusion, seine Lebensgeschichten wirklich erzĂ€hlen zu können, entgegnet die Schriftstellerin Christa Wolf: «Wie man es erzĂ€hlen kann, so ist es nicht gewesen.» Die individuelle Unversehrtheit unserer eigenen Erinnerungen dagegen entsteht in den Geschichten, die wir fĂŒr unser Leben erfinden, und denen, die wir fĂŒr unser Leben halten. Je öfter wir uns an diese Erfindungen erinnern, sie erweiternd erzĂ€hlen, desto mehr halten wir sie fĂŒr unser wirkliches Leben.
Sentimental werden Erinnerungen in den Versuchen, gelebte Zeit und deren Erfahrungen auszublenden, um sich so intensiver in den Zustand der erinnerten Zeit zu versetzen. Der blĂ€ht sich auf zu selbsttragenden, sinnstiftenden Konstruktionen, deren Deutungen und Bedeutungen mit der Gegenwart wenig gemeinsam haben. VerstĂ€rkt durch Impulse der Musik, Bilder und Sprachen, können Erinnerungen so aktiviert werden, dass ihre Emotionen bis in den gegenwĂ€rtigen Moment nachwirken. Hier bleiben viele Fragen ohne Antwort: Welche inneren Bilder, vergessene TrĂ€ume, unerfĂŒllte Visionen und niemals gelebte Vorstellungen erinnern wirklich an Bilder, die bis in die Gegenwart sichtbar sind? Sind das Bilder, die an Bilder erinnern, oder Bilder, die den gelebten Moment abbilden? Immer wieder kommen Ahnungen auf, in denen die prĂ€genden Bilder der Erinnerungen wie Standfotos fast vergessener Filme erscheinen. Realer erscheinen die Bilder, die direkt und tiefgehend die TrĂ€ume in der Nacht illustrieren. Bilder, die fiktiv und schemenhaft fĂŒr kurze Zeit in uns verbleiben. Wir spĂŒren, sie sind da, und doch können wir nur deren Vergessen erinnern.
Begegnungen mit vor Jahrzehnten zum letzten Mal gesehenen Menschen werden zu Erinnerungsreisen in eine Zeit, die anders erzĂ€hlt wird. Vergessene Jargons sind zu hören, Bilder, verblasste Erlebnisse werden aktiviert und manches davon klingt befremdlich. Deckt sich das mit den Geschichten, mit denen ich mein Leben dieser Zeit erzĂ€hle? FĂŒhle ich mich ertappt bei phantasievollen AusschmĂŒckungen erinnerter Geschichten? In diesen Momenten wird deutlich, Erinnerungen an das Vergessen sind erhellender fĂŒr das Leben der Gegenwart als die «fotogenen» Erinnerungen, mit denen wir unser Leben erzĂ€hlen. Fotografien, als Platzhalter der Erinnerungen, werden bei Susan Sontag als «Objekte der Melancholie» beschrieben. Doch der Anspruch an Erinnerungen durch Fotografien erfĂŒllt sich nur scheinbar, weil sie sich mehr auf das Foto beziehen und weniger auf das Geschehen selbst. Erinnere ich mich wirklich an das Gesicht der Abgebildeten, oder ist es doch nur die Erinnerung an das Foto?
Im Bilderkaraoke der Erinnerungen fĂŒhrt das Sehen dazu, sich den Fotografien anzupassen. Ergo: Die Bilder verĂ€ndern das Sehen selbst und damit auch die Erinnerung, die sie scheinbar abbilden. Hinzu kommt die BeilĂ€ufigkeit und Beliebigkeit, auf die Bilder verweisen, wenn sie als VersatzstĂŒcke der Erinnerungen daherkommen. Die Redensart «Ich kann mich nur noch unscharf erinnern» verniedlicht die Ambivalenz zwischen dem Vergessen-Wollen und dem Erinnern-Können. In dieser Spannung entwickeln sich die meisten Fotografien zu emotionalen Meilensteinen erinnerter Lebensgeschichten, weil sie zugleich Aneignung und Verlust von Zeit sichtbar machen. In Bildern fixierte Zeit kumuliert zu einem «Schneegestöber» erinnerten Lebens. Erinnerungen an Bilder fĂŒhren zu anderen Bildern und diese wiederum lassen wieder andere Bilder erinnern. So entstehen VerknĂŒpfungen, die uns glauben lassen, dass die Vergangenheit keine Illusion war, sondern wirklich stattgefunden hat. Siegfried Kracauer hat fĂŒr das Schneegestöber der Erinnerungen eine Metapher gefunden: «Unter der Fotografie eines Menschen ist seine Geschichte wie unter einer Schneedecke vergraben.»
Dieter Zinns Buch âFotokaraokeâ ist erschienen im Mitteldeutschen Verlag, Halle.
ruhr.speak veröffentlicht AuszĂŒge in lockerer, aber alphabetischer, Reihenfolge.