Im Fotokaraoke von Dieter Zinn geht es um die Wahrnehmungen der inneren und Ă€uĂeren Bilder, die unser Leben bestimmen. Es geht um Selbstbilder, Fremdbilder, Sinnbilder, Vorbilder: Wir sehen, fĂŒhlen und denken in den Sprachen der Bilder. Die Bilder im Kopf prĂ€gen das Selbstbild eines Menschen. Ihre Summe bildet ab, was in uns gleich bleibt: die IdentitĂ€t. In kurzen, konzentrierten Ăberlegungen, verbunden mit persönlichen Assoziationen, wird der Blick im Fotokaraoke auf alltĂ€gliche, fiktive und verborgene Bildwelten gerichtet.
Im Blau des Himmels können Augen und Sinne sich verlieren, doch wer weiĂ schon, warum der Himmel blau ist? So ist es mit den Farben, wir wissen wenig von ihnen, wie sie entstehen, wie und wo sie wirken, mit welchen Emotionen Menschen individuell auf Farben reagieren. Was wir wissen ist, dass blau nicht gleich blau ist und dass es fĂŒr Entstehung und Wirkung der Farben, die wir wahrnehmen, verschiedene ErklĂ€rungen gibt.
Der Blues ist blau in den Interpretationen der Musiker, die ihre KlĂ€nge und Töne mit Farben verbinden. Ăhnlich den Tönen und Rhythmen in der Musik spielen Farben mit unseren emotionalen Frequenzen, die sich verbinden mit kulturellen und gesellschaftlichen Einwirkungen.
Farbwahrnehmungen vermischen sich durch Kultur, Kunst, Mode, Zeitgeist, Religion mit den Tiefen des Unbewussten. Als Konstante der Farben erscheinen ihre Symbolwerte, wobei je nach Kultur die «gleiche» Farbe fĂŒr GlĂŒck, Liebe, Tod, Gewalt, NĂ€he oder Ferne stehen kann. Bewertungen, Genauigkeiten und GefĂŒhle balancieren in der Welt der Farben in einem unendlichen Pingpongspiel zwischen SubjektivitĂ€t, ObjektivitĂ€t, Behauptung und Phantasie.
FĂŒr den Wissenschaftler Isaac Newton war die Farbe eine Eigenschaft des Lichts. Er hatte erkannt, dass sich Farbe und SubjektivitĂ€t nicht trennen lassen, weil wahrgenommene Farben andere Eigenschaften zeigen als physikalische Farben. Die Wechselwirkungen farblich subjektiver Objektivierung beherrschte der Maler Claude Monet wie kein anderer KĂŒnstler seiner Zeit. Ihm ging es um VerĂ€nderungen der Farben durch wandelnde Lichtreflexe, die stĂ€ndig eine neue Beziehung zwischen dem Auge des Malers und seinem Gegenstand herstellen. Ein Astrophysiker wird die Farben einer «Antennen-Galaxie im Sternbild Rabe», die rund 62 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt ist, auf seinem Computerbildschirm anders interpretieren als ein KĂŒnstler oder Modedesigner.
Unsere Wahrnehmung hat kein Problem mit neuen, unbekannten Farben, weil unsere Augen der QualitĂ€t und synthetischen Wiedergabe des Farbspektrums ohnehin nicht gewachsen sind. Trotzdem ist es erstaunlich, wie problemlos und schnell wir uns an bisher nicht gesehene oder modisch implantierte Varianten technischer Farbgebung gewöhnen können. Im beginnenden 21. Jahrhundert entstehen durch hyperreale Displays sich selbst spiegelnde Farbwirklichkeiten in HochglanzĂ€sthetik. Wer ein Jahrzehnt zurĂŒckschaut, wird erstaunt sein, welche Farben «damals» als modern empfunden wurden.
Perfektion und Verfremdung technisch geprĂ€gter Farbgebungen in Fotografien können in ihrer Anmutung hyperreal oder synthetisch wirken, weil sie ohne physikalische BeschrĂ€nkungen des menschlichen Auges entstanden sind. Der Medientheoretiker Lev ManoviÄ schreibt ĂŒber das synthetische Sehen: «Aus der Perspektive des menschlichen Blicks ist es hyperreal, und dennoch ist es völlig realistisch. Es ist einfach das Ergebnis eines anderen Sehvermögens, das perfekter als das menschliche ist. Das synthetische Sehen benennt die Akzeptanz von Farben, Licht und Raumillusion, die ĂŒber die physische Wahrnehmung der Netzhaut hinausgehen.»
Bestimmte Lichtmischungen, die durch Kunstlicht, Zwielicht, fotografische Langzeitbelichtungen und deren Farbverschiebungen entstehen, werden ĂŒber die Kameratechnik anders abgebildet, als wir das mit den Augen wahrnehmen. In der Kunst- und Autorenfotografie finden sich in vielen Fotoarbeiten technisch synthetische Farben, um ĂŒber gezielte Farbgebung die Bildsprache eines avisierten Kontextes deutlich zu bestimmen. Ein Kontext entsteht dann, wenn sich Inhalt, Form, Licht, Farben und PrĂ€sentation der Bilder zu einer eigenstĂ€ndigen Einheit verbinden.
In Farbwahrnehmungen gibt es kein Falsch oder Richtig wie null oder eins im digitalen Datenmodus. Je nach Licht, Beleuchtung und Umfeld verÀndern Farben ihre IntensitÀt. «Falschfarbige» Bilder lassen sich nur im Abgleich mit Bildern bewerten, von denen wir annehmen, dass ihre Farben «richtig» sind. Farbrichtigkeit basiert zunÀchst auf Behauptungen, die zur Wirklichkeit werden, wenn sie sich mit unseren emotionalen Sehgewohnheiten synchronisieren.
Wir sind es gewohnt, nicht nur mit unseren Augen zu sehen, sondern mit unserem Wissen, unserer Logik, unserer Erwartung und der Bedeutung, die wir dem Gesehenen beimessen. Deswegen können synthetisch sichtbar gemachte Farben in Fotografien von Betrachtern als wirklich akzeptiert werden. Besonders dann, wenn sie in ihrem Kontext nicht als Abbilder einer Wirklichkeit, sondern als Sinnbilder aufeinander Bezug nehmen.
Dieter Zinns Buch âFotokaraokeâ ist erschienen im Mitteldeutschen Verlag, Halle.
ruhr.speak veröffentlicht AuszĂŒge in lockerer, aber alphabetischer, Reihenfolge.