Streifzug #4 vom 6. August 2019

Longwy, Lüttich, Duisburg
Es sind die Busse, die auf vielen Fotos auffallen. Reisebusse im Liniendienst, die Heerscharen von Industriearbeitern zur Schicht bringen oder abholen oder zwischendurch irgendwo abgestellt sind. Wo, das steht nicht dabei, und das ist auch die große Stärke des Buchs: Der niederländische Fotograf Dolf Toussaint (1924-2017) war zwischen 1983 und 1984 für ein Jahr in Lothringen, der Wallonie und an der Ruhr unterwegs und präsentiert die auch geographisch fast zusammenhängenden Regionen als Einheit, Kern der Europäischen Gemeinschaft, als große “Zone Industrielle”.
Vom stolzen Industriearbeiter aber ist nicht viel zu sehen. Fast keiner, Passant, Hausfrau, in den Bussen, hat noch zu lachen. Die Deindustrialisierung ist in vollem Gange, Tiefe und Breite der von ihr verursachten Brüche aber für die meisten noch nicht voll absehbar. Mit erschöpften Rohstoffvorkommen, beinharter Konzentration auf immer weniger, immer größere und immer automatisiertere Standorte, Wanderung des Kapitals in Finanzprodukte und Einführung der Marktideologie sind die Weichen gestellt für die völlige Umkrempelung ganzer Länder. Es sind Bilder aus der letzten Phase der gesellschaftsprägenden Kraft der Industriearbeit.
Toussaints Sympathien sind dabei offensichtlich: “Ich denke nicht an die Fotografie, wenn ich über die Schlachtfelder der europäischen Industrialisierung laufe. Ich sehe Überlebende, die bleiben und die Verlierer sein werden.” Diesen Menschen und ihrer Lebenswelt, ihren Arbeitsstätten, Wohnorten und Sozialstrukturen widmet er den größten Teil des Buchs, ohne Verklärung und ohne Häme. Longwy, Rombas, Esch, Duisburg, Lüttich, Oberhausen, Charleroi – manchmal wechselt der Spielort von Seite zu Seite.
Der Bruch dann so hart wie in der Wirklichkeit: Ratlose Gesichter auf Betriebsversammlungen, die Reihen noch geschlossenen, fruchtlose Proteste, Einzelne bereits abseits stehend, Werksruinen, zugewachsene Direktorenvilla, Immobilienmakler, Tierkadaver. “Erfolgreich gemeisterten Strukturwandel” fotografiert man anders herbei. Dass Toussaint dem noch ein Bild spielender Kinder folgen lässt, nimmt der Schlusssequenz allerdings von seiner Knackigkeit.
Die andere Seite der Geschichte verdichtet Toussaint in nur drei Fotos, die Menschen aus anderen Kreisen zeigen. Einer davon: Étienne Davignon, der 1970 den nach ihm benannten Davignon-Bericht zur Weiterentwicklung und politischen Einigung der Europäischen Gemeinschaften vorlegte und zum Zeitpunkt der Aufnahme Europäischer Industriekommissar war. Die Maßnahmen der Montanunion zur Abwetterung der Stahlkrise der 1980er trugen seine Handschrift. Toussaint zeigt Parallelen und Gemeinsamkeiten in den betroffenen Regionen und in den Gesichtern der Menschen. Damit weist er weit über den zeitlichen und räumlichen Bezug hinaus. Genauso bemerkenswert ist nur, in wie wenigen anderen Fotobüchern das bisher geschah. Vielleicht liegt das auch daran, dass das Projekt Europa selbst bereits brüchig geworden ist. Toussaint blieb seiner Haltung treu: er fotografierte politische Prozesse im Großen (im Parlament) wie im Kleinen, und auf der Seite derer, über die hinweg entschieden wird.
Aufnahmeorte
Zone Industrielle hat weder Bildtitel noch ein Bildindex. Einzig im Impressum findet sich der Hinweis, dass die Fotos 1983/84 “in Nordost-Frankreich, Südost- und Ost-Belgien und im Ruhrgebiet” aufgenommen worden sind. Mindestens eins stammt außerdem aus Luxemburg. Während es gerade die Stärke des Buchs ist, diese Regionen als Kontinuum darzustellen, kann es für nähere Analysen dennoch hilfreich sein, die Aufnahmeorte zu kennen. Den Großteil der Aufnahmeorte konnte ich bereits identifizieren. Die Ergebnisse werde ich nach Abschluss der Arbeit veröffentlichen.
Dolf Toussaint – Zone Industrielle
Erschienen 1984 bei Fragment, Amsterdam. Gestaltung: Dick Breebaart. Text: Martin Schouten. Druck: Drukkerij Rosbeek, Nuth. Auflage unbekannt. 124 Seiten 21,2 x 26,4 cm, Softcover, mit 104 Schwarz-Weiß-Fotografien 24 x 16 cm. Es ist eine niederländisch-französische und eine englisch-deutsche Ausgabe erschienen. Titel: “Zone industrielle – Industriële zone” bzw. “Industrial Zone – Industrielle Zone”. Die bibliographischen Angaben stammen teilweise aus “The Dutch Photobook”, NAi Publishers 2012 – vielen Dank an Kim Bouvy. Das Buch ist antiquarisch erhältlich.
Text: Haiko Hebig