Aktuelle russische Kunst am Rhein – „I am who I am“. Johann Strauss´ Musik – bekannt auch aus Stanley Kubricks Filmklassiker „Odyssee im Weltraum“ erklingt unter Tage und läßt den Besucher schwerelos-beschwingt die Ausstellung „I am who I am“ genießen. Weder John Rankins Fotos im NRW-Forum noch Andreas Gurskys Bilder im Kunstpalast sind derzeit auch nur annähernd so spannend wie die aktuelle Ausstellung zeitgenössischer russischer Kunst und Fotokunst im KIT „Kunst im Tunnel“ am Düsseldorfer Rheinufer.
Das Ausstellungsprojekt des MAMM Multimedia Art Museum, Moskau und der Rodchenko Moskow School of Photography and Multimedia – ist ein Querschnitt des Schaffens zeitgenössischer Künstler und Künstlerinnen aus Russland, die den Zerfall der vorherigen Sowjetunion miterlebten oder gar erst in Putins Reich nach Gorbatschows Perestroika zur Welt kamen.
Für alle Künstler gilt es, den Spagat zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie einer ungewissen Zukunft emotional wie intellektuell zu verarbeiten. Das beginnt bereits beim englischen Titel der Präsentation: hier hat schon der ehemalige Klassenfeind gewonnen. Bedauerlich, daß auf eine zusätzliche russische Schreibweise des Ausstellungsmottos im Plakat verzichtet wurde.
Egal, eine Petitesse. Zu den Photos. Sergey Shestakovs (geboren 1968) Serie „Journey in to the future“ von 2010 sind denn eher traurig-melancholische Erinnerungsbilder als optimistische Blicke in die Zukunft. Seine Bilder entstanden in der „toten Zone“ der ukrainischen Stadt Pripyat, die nach der Tschernobyl-Katastrophe von einer trostlosen Leere durchdrungen ist.
Tote Häuser, Lichtspielhäuser zeigt Leo Kleni (geb. 1987). Fassaden von Kinos, die nach dem Zerfall der Sowjetunion ihre Bedeutung veloren hatten. Die Filmindustrie mit ihren Propagandastreifen war eine der ideologischen Säulen des Regimes, getreu dem Motto Lenins: „Von allen Künsten ist die des Kinos für uns am wichtigsten“ (1922).
Abschied von einer ideologischen Utopie nehmen auch die schaurig-schönen Bilder von Natasha Pavlovskaya (Jahrgang 1987): Die Serie „Missing Space Donbass“ zeigt Abraumhalden in der östlichen Ukraine, die die Umgebung einer ehemaligen Bergarbeiterstadt dominieren. Das einstmals von einem sowjetischen Architekten gewünschte „proletarische Paradies“ hat sich in eine sprichwörtliche Abraumhalde der Geschichte verwandelt.
© Natasha Pavlovskaya, Missing_Space. Donbass. 2009, Digital print
Collection of Multimedia Art Museum, Moscow
Um Neubeginn und Heilsversprechen geht es in Sayana Mongushs (Jg. 1965) Fotoserie „Shaman-office“/“Schamanen-Büro“ aus der autonomen Republik Tuwa im südlichen Sibirien. Ihre Portraits von Schamanen untersuchen „den Visualisierungsprozeß des Sakralen in der modernen Welt“.
Geographisch viel näher bei uns sind die Portraits „Kosovo national leaders“. Olga Matweevas (geb. 1986) Portraits zeigen fragmentarisch die Köpfe kosovarischer Politiker bzw. was von deren Gesichtern übrig blieb, nachdem ihre Plakatmotive von Wind, Wetter und Überkleisterungen nahezu aufgelöst wurden. Die in Moskau lebende Künstlerin stellt in ihren Bildern die moderne Medienwelt in Frage.
Spannende Bilder kommen darüber hinaus von Apollinaria Brochet (geboren 1995), Yulia Lebedeva (Jg. 1989) sowie Anna Skladmann (1986). Brochet huldigt dem auch heute noch sehr populären russischen Schriftsteller Anton Tchechow (1860-1904), Lebedeva zeigt reiche sorglose Teenager und Skladmann ihre bereits vom Kustmarkt gefeierten Fotos „Little Adults“ – Sprößlinge russischer Oligarchen.
© Anna Skladmann, Lisa Sitting on Her Dining Table, Moscow, 2010
From the ‘Little Adults’ series, Digital print, Collection of Multimedia Art Museum, Moscow
Igor Mouhkin (1961) zeigt mit „Die Verliebten“ eine klassisch-schöne Schwarzweißserie russischer Teenager, Oleg Dou (1983) entwirft perfekte Photoshop-Portraits „Another Face“ am Rechner (eines seiner weißen Gesichter ziert das Cover der neuesten Adobe Photoshop Box), während Ilya Batrakov (1985) den Betrachter mit „With no face“ mit dem illusionslosen Leben „aggressiver, gezeichneter oder verlorener“ Männer konfrontiert.
Doch „Kunst im Tunnel“ zeigt nicht nur Fotos, sondern auch aufregende Videos, Skulpturen oder Installationen. Absurd-skurril das 20minütige Video „The Rapid and the Thundering“ von Taus Makhacheva (1983), das die Subkultur illegaler Straßenrennen und ihrer Teilnehmer in Dagestan thematisiert: ein mit Plüschteddystoff umkleideter japanischer Boulevard-Jeep ist der Star unzähliger autobegeisterter männlicher Fans.
Begeisterung auch ob der interaktiven Videoinstallation „Barriers“ von Mikhail Maximov (1964). Wortwörtlich Barrieren fallen, wenn der Besucher energisch das vor ihm stehende Handrad (der Geschichte) dreht und somit die Sichtweisen und Umstände ändert. Es kippen denn in den verschiedenen Videolocations – per Handrad ausgelöst – die Barrieren in den Videos: so wurde, so wird Geschichte gemacht.
Faszinierend auch die Installation „3G International“ der Gruppe Electroboutique. Aristarkh Chernyshev (geb. 1968) und Alexei Shulgin (1963) „weisen auf eine Welt hin, in der Bücher und ein lebendiger menschlicher Austausch von der virtuellen Welt verdrängt werden“. Die meterhohe Lichtskulptur in Form eines s-förmigen iPhones und seiner Apps-Symbole nimmt die Frorm des weltbekannten Tatlin-Turms von 1919 auf und „stellt die Frage nach der Sakralisieriung der virtuellen Realität die unsere Kommunikationsweise und den Umgang mit dem Kommunikationsstrom bestimmt“. Hm, erneut scheint der ehemalige Klassenfeind gewonnen zu haben, denn in Ost und West existieren heute die gleichen Begehrlichkeiten nach edlen hochwertigen Mobilfunktelefonen und dem damit verbundenen gesellschaftlichen Ansehen.
© Electroboutique group, 3G International, 2010
Mixed technique, Collection of Multimedia Art Museum, Moscow
Der Tatlin-Turm war ein 400 Meter hohes Turmprojekt des russischen Künstlers Wladimir Jewgrafowitsch Tatlin aus dem Jahr 1917. Das fünf Meter hohe Modell „Mit voller Kraft“ wurde 1919 von Tatlin für die III. Internationale entworfen. Das Original ist verschollen.
Wohl kaum ein verloren gegangenes Kunstwerk ist inzwischen so oft rekonstruiert worden, denn es steht für den Aufbruch in ein neues Zeitalter. Technisch war der Turm durchaus machbar, doch Apparatschiks wünschten sich nun einen 500 Meter hohen, schrägen bewohnbaren Wolkenkratzer. Tatlin hingegen wollte nur ein Kunstwerk schaffen.
Apropos „Weltraum-Musik“ von Johann Strauss: sie erklingt nicht von ungefähr. Die frühere Sowjetunion hatte einmal die Nase vorn im Wettbewerb gegen den Klassenfeind: das war am 12. April 1961, als Juri Gagarin der erste Mensch im All war. Dieses Thema greift auf das Künstlertrio ABC Art Business Consulting: Sie „analysiert auf der Grundlage des Weltraum-Mythos die moderne Bürokultur“, die sich in den letzen Jahrzehnten auch in Rußland etabliert hat. Aus zahlreichen gebrauchten Computertastaturen gestalteten sie einen Satelliten, der ein Sinnbild darstellt für die sich schnell ändernden Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
„I am who I am“ – noch bis 18. November am Mannesmannufer 1b in Düsseldorf
Text: Hartmut S. Bühler – Fotograf